Dhalgren
wieder. »Eine Buchhandlung?«
»Ist es immer noch.« Tak spähte hervor, wo die einzelne Birne die leeren Regale beleuchtete. »Unten ist die Taschenbuchabteilung.« An eine Kante war ein Papierstreifen geheftet, auf dem stand: ITALIENISCHE LITERATUR.
Ein Jugendlicher saß mit sehr langem Haar und gekreuzten Beinen auf dem Boden. Er blickte hoch, schloß dann die Augen, Gesicht nach vorn gerichtet und intonierte: »Om . . .« und zog den letzten Ton so, bis es zu dem mechanischen Grummein wurde, das Kid beim Hereinkommen gehört hatte.
»Heute nacht besetzt«, sagte Tak leise. »Normalerweise ist niemand hier.«
Zwischen den karierten Flanellrevers glitzerte die Brust des Jungen vor Schweiß. Über dem Bart schimmerten die Wangenknochen. Er blickte sie nur kurz an, bevor er wieder die Augen schloß.
Es ist kühl, dachte Kid. Es ist viel kühler.
Neben ITALIENISCHER LITERATUR war POLITISCHE WISSENSCHAFT. Auch hier keine Bücher.
Kid ging um die Knie des Jungen herum, blickte hoch zur WISSENSCHAFTSTHEORIE (auch leer) und ging weiter zur PHILOSOPHIE. Alle Regale, so schien es, waren leer.
»Ommmmmmmmmmmmmmmmm...........«
Tak berührte Kids Schulter. »Hier, das wollte ich dir zeigen.« Er nickte durch den Raum.
Kid folgte Tak um AMERIKANISCHE LITERATUR herum, ein staubiges Holzregal mitten im Raum.
Die unverspiegelte Birne drehte Schatten um sie herum.
»Ich bin hier immer wegen meiner Science Fiction hergekommen«, sagte Tak. »Bis nichts mehr da war. Da drin. Geh weiter.«
Kid trat in die Nische und stieß sich seine Stiefelzehe (dachte: Glück!), hüpfte zurück, blickte hoch. Die elfenbeinfarbene Tapete erinnerte ihn an Badezimmerfliesen.
Auf allen Regalen, außer dem obersten, lagen sie mit dem Umschlag nach vorn ausgestellt. Er blickte wieder zu dem Karton, vor den er getreten hatte. Der Deckel flappte zur Seite. Als er in den Kasten starrte, konzentrierte sich etwas: Ein Schatten, der zuerst durch seine Gedanken fiel, als Lanya ihm im Nest etwas gesagt hatte. Es war durch das Megalicht des Nachmittags fast ausgelöscht worden und lag jetzt unter der einen, unverspiegelten Birne scharf umrissen und unwiderruflich vor ihm:
So wie aus Manuskripten nicht über Nacht Fahnen wurden, so wurden auch aus Fahnen so schnell keine fertigen Bücher. Viel mehr als vierundzwanzig Stunden waren vergangen, seit er mit Newboy im Keller der Kirche die Korrekturen gelesen hatte.
Stirnrunzelnd bückte er sich nach einem Exemplar, hielt inne, nahm eins von dem Regal, stoppte wieder, sah sich nach Tak um, der die Fäuste in die Jackentaschen gestopft hatte.
Kids Lippen flüsterten eine Frage. Er sah wieder die Bücher an, griff noch einmal nach einem. Sein Daumen fuhr über den glänzenden Schutzumschlag.
Er nahm eins in die Hand.
Drei fielen herab; eins stieß gegen seinen Fuß.
Tak sagte: »Ich finde es ziemlich komisch, daß sie sie unter LYRIK eingeordnet haben« - das stand nämlich über dem Regal. »Ich meine, sie hätten jedes Regalbrett in diesem verdammten Laden damit vollstellen können. Es sind Dutzende von Kisten hinten im Laden.«
Daumen oben drauf, drei Finger hinten, versuchte Kid, das Gewicht zu schätzen. Er mußte es in der Hand wiegen. Da war ein Gefühl von Abwesenheit, das er am leichtesten füllen konnte mit
MESSING
ORCHIDEEN
In klaren Lettern aufgemalt, mit Kanten und Bögen, die seine eigenen Finger hätten nicht zeichnen können, selbst nicht mit einem Kurvenlineal und Winkelmesser. Er las wieder den Titel.
»Ommmmmmmmmmmmmmmmmmm . . .« Das Licht verlöschte und ging wieder an; das «... mmmmmmmmmm . . .« stoppte mit einem Husten.
Kid blickte über die sechs, sieben, acht vollen Regale. »Das ist aber komisch«, sagte er, und wünschte sich, das Lächeln, das sich auf seinem Gesicht zeigen sollte, würde seine innere Miene in die richtige Stimmung versetzen. »Das ist wirklich . . .«
Plötzlich nahm er zwei weitere Exemplare und schob sich an Tak vorbei zur Treppe. »Hey«, sagte er zu dem Jungen. »Alles okay?«
Das schweißüberströmte Gesicht hob sich. »Huh?«
»Was ist los mir dir?«
»Oh, Mann.« Der Junge lachte leise. »Mir ist absolut schlecht. Mir geht es so absolut miserabel.«
»Was ist los?«
»Mein Bauch. Ich habe einen Zwölffingerdarmkrampf. Das ist wie ein Geschwür. Ich meine, ich bin ziemlich sicher, daß es das ist. Ich hatte das schon einmal, daher weiß ich, wie es sich anfühlt.«
»Was machst du dann hier?«
Wieder lachte der Junge. »Ich
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