Dhampir - Götterjagd
würde. Vielleicht gewährte das, was die junge Weise mitgenommen hatte, Einblicke in die Geheimnisse jenes Ortes.
Magiere blickte über den weißen Hof zum Tor, dessen einer Flügel noch immer schief in den Angeln hing. Der Gedanke, dass eine weitere lange Reise vor ihnen lag, belastete sie, aber es war besser, als auch nur einen zusätzlichen Tag in der Burg zu verbringen.
Leesil und sie hatten bis tief in die Nacht miteinander gesprochen, über ihre Hoffnungen für die Zukunft und den Weg nach Hause. Sie hatten keine Karte, aber wenn sie nach Westen zogen, sollten sie irgendwann das Immermoor erreichen, das ausgedehnte Sumpfland südlich von Dröwinka. Von dort aus ging es weiter nach Nordwesten in Richtung Küste, am nördlichen Rand des Sumpflands entlang.
Leesil glaubte, dass sie ohne Zwischenfälle das südliche Belaski erreichen konnten, wenn sie an der Südgrenze von Dröwinka blieben, doch Magiere hatte da ihre Zweifel. Wenn Dröwinkas Adelshäuser noch immer darüber stritten, wer dem Großfürsten auf den Thron folgen sollte, so war keine Ecke ihres Heimatlands sicher. Alle Beteiligten konnten Außenstehende für eine Bedrohung halten und sie angreifen.
Und sosehr sich Magiere auch eine Nachricht von Tante Bieja erhofft e – ihr Heimatdorf Chemestúk lag viel zu weit im Landesinnern.
Leesil hatte Bieja Geld und einen Brief hinterlassen, in der Hoffnung, dass sie nach Miiska reiste. Tante Bieja war ausgesprochen stu r – wie offenbar alle Frauen in Magieres Famili e – , aber nicht dumm.
Magiere seufzte und hatte es satt, sich dauernd Sorgen zu machen. Wenn sie Miiska erreichten, würde Wynn Domin Tilswith in Bela Bescheid geben, und dann würde Magiere einen Weg finden, Bieja ausfindig zu machen, wenn ihre Tante dort nicht auf sie wartete. Anschließend konnten sie alle endlich ausruhen und die Kugel der Weisengilde übergeben.
Der Wind wurde stärker und wirbelte die Schneeflocken durcheinander.
»Es droht ein weiterer Schneesturm«, brummte Leesil.
»Ja«, pflichtete ihm Sgäile bei. »Wir müssen uns beeilen, wenn wir das Lager rechtzeitig erreichen wollen.«
Sie bückten sich, und jeder von ihnen schlang sich eine der beiden Trageschlaufen der Hängematte über die Schulter. Leesil nahm auch die Schlinge des Lederbeutels mit den Feuerkristallen.
»Setz die Kapuze auf, Wynn«, sagte Magiere, drehte sich um und hob eins der schweren Bündel der jungen Weisen.
Wynn verzog das Gesicht, kam der Aufforderung aber nach. Dann machte sie plötzlich kehrt und betrat die Burg.
»Was machst du da?«, rief Magiere ihr nach.
Als Wynn wieder zum Vorschein kam, wankte sie unter dem Gewicht eines zwischen zwei Eisenplatten gepressten Bündels. Magiere erinnerte sich daran, es auf dem Boden des Arbeitszimmers gesehen zu haben.
»Jetzt ist aber Schluss!«, sagte sie. »Du kannst nicht jedes Pergament in der Burg mitnehmen!«
»Dies muss mit!«, beharrte Wynn. »Es könnte ein Tagebuch sein, geschrieben von Li’käns ehemaligen Gefährten.«
Magiere fragte sich, wer jene anderen gewesen sein mochten und warum sie Li’kän allein zurückgelassen hatten. Wie waren sie überhaupt in der Lage gewesen, die Burg zu verlassen, obwohl die weiße Untote über Jahrhunderte hinweg die Fesseln eines verborgenen Herrn getragen hatte?
»Ach, gib her«, brummte Magiere und nahm das Bündel mit den Eisenplatten entgegen.
Es war so schwer, dass sie es fast fallen gelassen hätte, und Wynn schnappte erschrocken nach Luft. Dann gelang es Magiere, sich das metallene Buch unter den einen Arm zu klemmen.
Osha nahm Wynns zweites Bündel aus der Bibliothek. Der junge Elf kam gut zurecht für jemanden, der einen Schlag mit einer Eisenstange an den Kopf bekommen hatte. Er runzelte die Stirn und richtete einige leise Worte auf Elfisch an Sgäile.
»Ich weiß«, antwortete der.
»Für die von Li’kän getöteten Kastenmitglieder müssen Rituale durchgeführt werden«, erklärte Wynn.
Leesil warf ihr einen kurzen Blick zu und erklärte: »Zuerst marschieren wir zum Lager. Anschließend werden wir dann sehen, wie schlimm das Wetter wird.«
Sgäile blickte übers Hochplateau. »Ja, unsere Mission steht an erster Stelle.«
Magiere ging die Stufen hinunter und stapfte durch den Schnee zum Tor.
Hkuan’duv konnte kaum mehr atmen, als er plötzlich Stimmen hörte. Dänvârfij und er hielten nicht zum ersten Mal bei schlechtem Wetter Wache, aber dünne Luft und Kälte ließen ihn steif werden, obwohl er bei seiner Ausbildung
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