Dhampir - Halbblut
ein anderes Zeitgefühl als wir, das weißt du doch«, erwiderte Teesha und biss einen blauen Faden durch. »Und du hast ihm nicht viele Anhaltspunkte gegeben. Vielleicht braucht er Zeit, um die Hintergründe zu klären und festzustellen, wer oder was deinen Bruder getötet hat.«
Sie hielt die Näharbeit in ihren schmalen Händen und prüfte die Stiche so, als wäre dies eine Nacht wie jede andere, in der sie sich nach Sonnenuntergang in irgendwelche alten Texte vertiefte. In einem der unteren Zimmer waren die Regale voller Bücher und Schriftrollen, für deren Erwerb sie viel Geld bezahlt hatten. Rashed verstand nicht ganz, warum ihr so viel an Worten auf Pergament lag.
Er wünschte sich Teeshas Ruhe und nahm neben ihr Platz. Kerzenlicht reflektierte von ihrem schokoladenbraunen Haar. Die Schönheit jener langen, seidenen Locken fesselten seine Aufmerksamkeit nur für kurze Zeit. Dann stand er wieder auf und setzte die unruhige Wanderung fort.
»Wo könnte er sein?«, fragte er.
»Ich hab das Warten satt«, zischte eine dritte Stimme aus dem Schatten in der Ecke. »Und ich bin hungrig. Und es ist jetzt dunkel. Und ich möchte diesen Holzkasten verlassen, den ihr euer Zuhause nennt!«
Eine dünne Gestalt kam aus der Ecke des Zimmers, das letzte Mitglied des seltsamen Trios, das im Lagerhaus lebte. Der Junge schien etwa siebzehn Jahre alt zu sein und war etwas zu klein für sein Alter.
»Rattenjunge.« Rashed spuckte den Spitznamen wie einen viel zu oft erzählten Witz aus. »Wie lange versteckst du dich schon in der Ecke?«
»Ich bin gerade erwacht«, erwiderte Rattenjunge. »Aber ich weiß, dass es dich verstimmt , wenn ich ohne einen Gruß hinausgehe.«
Alles an ihm war braun, bis auf die Haut, und selbst die hatte einen lohfarbenen Ton vom Schmutz, der mindestens einige Monate, vielleicht sogar ein Jahr alt war. Schlichtes braunes Haar bedeckte den schmalen Kopf über dem verhärmten Gesicht mit den ebenfalls schlichten braunen Augen. Rashed hatte in seinem Leben viele verschiedene Bezeichnungen für unterschiedliche Braunschattierungen gehör t – zum Beispiel kastanien- und mahagonifarben oder beig e – , aber wenn man Rattenjunges schmutzige Gestalt sah, fielen einem keine derartigen Worte ein. Er spielte die Rolle des Schmuddelkinds so gut, dass er dazu geworden war. Das mochte eine seiner Stärken sein. Niemand erinnerte sich an ihn als ein Individuum, nur als einen weiteren dreckigen obdachlosen Jugendlichen.
»Über meine Stimmungen brauchst du dir nur dann Sorgen zu machen, wenn es einen guten Grund dafür gibt«, sagte Rashed. »Denk lieber an dich selbst.«
Rattenjunge schenkte der Warnung keine Beachtung, grinste und zeigte dabei fleckige Zähne.
»Parko war verrückt«, entgegnete er. »Es ist eine Sache, unsere größere Existenz zu genießen, aber er hat sich selbst verloren. Es war klar, dass ihn früher oder später jemand töten würde.«
Rashed hielt eine scharfe Antwort zurück. Seine Stimme blieb sanft und ruhig, aber der Gesichtsausdruck verriet ihn.
»Unnötiges Töten ist ein weiteres Thema, über das du dich nicht auslassen solltest.«
Rattenjunge wandte sich ab und zuckte mit den Schultern. »Es ist wahr. Er mag einmal dein Bruder gewesen sein, doch er war in den Wilden Weg vernarrt und besessen von der Jagd. Deshalb hast du ihn fortgeschickt.« Er knabberte an einem Fingernagel. »Außerdem, ich habe dir schon tausendmal gesag t … « Er wirkte wie ein zu Unrecht angeklagtes Kind, das ungläubigen Eltern gegenüberstand. »Ich habe den Inhaber der Taverne nicht getötet.«
»Genug«, sagte Teesha und sah Rattenjunge wie eine tadelnde Mutter an. »Solche Diskussionen führen zu nichts.«
Rashed schritt wieder durch den kleinen Raum. Das ganze große Lagerhaus gehörte ihm, aber dieses Zimmer wurde schon seit einer ganzen Weile privat genutzt. Mehrere Türen in den Wänden und im Boden führten nach draußen oder zu weiter unten gelegenen Etagen. Teesha hatte es mit Sofas, Tischen, Lampen und Kerzen in der Form von dunkelroten Rosen ausgestattet.
Abgesehen von ihrer ungewöhnlich bleichen Haut konnte man Rashed und Teesha leicht für Menschen halten. Rashed hatte für ihr Leben in Miiska hart gearbeitet. Er musste unbedingt herausfinden, was mit Parko geschehen war, nicht nur um Rache zu nehmen, sondern auch um ihrer Sicherheit willen.
»Ich habe es satt, jeden Abend zu warten«, sagte Rattenjunge verdrießlich. »Wenn Edwan nicht bald kommt, gehen ich nach
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