Dhampir: Steinerne Flut (German Edition)
bemerkte sie den Zylinder mit der Schriftrolle, nahm ihn und ging damit zum Bett.
Doch in der Mitte des Zimmers blieb sie plötzlich stehen, drehte sich langsam um und sah zur Tür.
Wynn stellte sich vor, wie Chane einer verärgerten Schatten folgte. Es war nicht etwa Schatten, die Chane folgte, sondern umgekehrt. Die launische, bockige, junge Majay-hì ging voraus.
»Oh … oh, du …«, begann Wynn, aber ihr fielen keine geeigneten Worte ein.
Sie lief zur Tür, riss sie auf und sah in den Flur.
Chane und Schatten waren bereits weg, aber Wynn wusste eines: Sie hatte Schatten gezeigt, worum es ging, doch die Hündin hatte erst nachgegeben, als sie die Geduld mit ihr verloren und ihr befohlen hatte, Chane zu begleiten – aber nicht mit Erinnerungsbildern, sondern mit gesprochenen Worten! Und wie konnte Schatten verstanden haben, was Wynn zu tun beabsichtigte, während sie und Chane fort waren?
Wynns Hand schloss sich fester um den Zylinder mit der Schriftrolle. »Du hinterhältige kleine Göre! Genau wie dein Vater!«
Schatten hatte gesprochene Worte verstanden – zumindest gut genug, um zu erkennen, was Wynn plante.
Die ganze Zeit über hatte sich Wynn mit der Erinnerungssprache bemüht, bis sie Kopfschmerzen bekam. Und dann stellte sich plötzlich heraus, dass Schatten durchaus den Sinn von gesprochenen Worten erfassen konnte.
Wynn kehrte ins Zimmer zurück und warf die Tür zu.
»Oh … Ich habe einige Worte für dich, wenn du zurückkehrst. Wart’s ab!«
Sau’ilahk hörte und sah durch seinen halb in der Decke von Wynns Zimmer verborgenen Diener. Er rief ihn rasch zurück.
Das Geschöpf kam aus der Seitenwand des Gasthauses, wie eine vierbeinige Spinne, die aus grauem Wasser auftauchte. Sau’ilahk streckte eine Hand aus, der er Substanz gegeben hatte, und ergriff den steinigen Körper.
Wynn, Chane und Schatten wurden wieder aktiv, aber diesmal folgten sie verschiedenen Wegen.
Auch der Schriftrollenzylinder hatte Sau’ilahks Aufmerksamkeit geweckt. Aber er enthielt nur einen Text von vielen, und im Vergleich mit all den anderen spielte er kaum eine Rolle. Mit seinem Diener in der fest gewordenen Hand glitt Sau’ilahk zum Hauptweg.
In der Ferne waren Chane und Schatten zur Eingangshöhle von Meerseite und dem Aufzug unterwegs. Sau’ilahk war von dem Gespräch über Erz-Locken verwirrt gewesen, hatte jedoch sofort das Interesse an den Eisenborten verloren, als die Herzogin erwähnt worden war.
Eine Âreskynna – »mit den Wellen des Ozeans verwandt« –, wenn auch nur durch Heirat, befand sich im Seatt. So viel Glück erschien ihm fast unglaublich. Herzogin Reine hatte für die Königlichen in Calm Seatt agiert, die in direkter Verbindung mit den Oberhäuptern der Gilde und dem Übersetzungsprojekt standen.
Sau’ilahk sank halb in die Wand des Gasthauses und zog den Diener mit sich. Dort wartete er, bis Wynn das Gebäude verließ, und dann folgte er ihr mit einem kurzen Dämmern, das ihn zu erinnerten Orten trug. Der Diener huschte unterdessen hoch oben über die Wände des Hauptwegs.
Eine Ebene tiefer blieb Wynn schließlich stehen und blickte in einen Seitentunnel.
Reine Faunier-Âreskynna kam aus einem Laden.
Sau’ilahk erkannte ihr Gesicht. Sie hatte geholfen, seine Interessen bei der Gilde zu schützen, indem sie den Hauptmann der Stadtwache bei seinen Ermittlungen behindert hatte. Dadurch war es der Gilde möglich gewesen, die Texte unter ihrer Kontrolle zu behalten und ihr Geheimnis zu hüten. Und die Übersetzungsfolianten waren bei den Skriptorien der Stadt verstreut geblieben.
Bis zu Wynns Eingreifen.
Sau’ilahk brauchte sie nicht mehr, wenn die Herzogin ihn zu den Texten führte.
Bald konnte er die lästige junge Weise beseitigen.
14
Chane überholte Schatten und ging voraus zur Eingangshöhle von Meerseite. Er schritt am Zugang zur Tram-Station vorbei und näherte sich dem Haupteingang. Dort gab es keinen echten Markt wie in der größeren Höhle von Buchtseite, nur einige Verkäufer, die ihre Waren auf Karren anboten.
Er trat durch den großen Torbogen auf die Straße am Berghang, und Schatten erschien still an seiner Seite. Sie befanden sich jetzt im externen, außerhalb des Berges gelegenen Teil der Zwergensiedlung, von dem aus man über den endlosen westlichen Ozean blicken konnte.
Meerseite war nicht so groß wie Buchtseite. Die schmale Hauptstraße, die sich in engen Serpentinen über den Hang wand, war schmaler und wirkte gefährlicher. Aber Gebäude säumten
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