Dhampir: Steinerne Flut (German Edition)
heimlichen Besuch abgestattet, und einer von ihnen, der Jüngere, hatte ihn »Bruder« genannt. Nach dem belauschten Gespräch zu urteilen, zählten beide Besucher zu den »Steingängern«. Wenn Wynn mehr darüber herausfand, wenn sie mithilfe von Hochturms Familie vielleicht den Bruder ausfindig machen konnte … Sie hoffte, dann einen Hinweis darauf zu bekommen, wo sich die alten Texte befanden. Der Wrait war bereit gewesen, für die Übersetzungen zu töten, und da Wände kein Hindernis für ihn darstellten: Warum hatte er sich nicht die Originale vorgenommen?
Die Antwort lag auf der Hand. Die Originale waren nicht auf dem Gelände der Gilde untergebracht.
Offenbar standen sie nur einigen Auserwählten für die Arbeit eines Tages zur Verfügung und wurden für die Nacht an einem sicheren Ort verwahrt. Und die beiden in Schwarz gekleideten Zwerge waren einfach so in Hochturms Arbeitszimmer erschienen, ohne dass jemand sie gesehen hatte. Steingänger. Von diesem einen Wort musste Wynn ausgehen, und in einer Zwergenstadt konnte sie mit den bei der Gilde erlernten Recherchemethoden kaum etwas anfangen.
Die Stämme, Clans und Familien der Zwerge besaßen kaum Dokumente, die sich auf einzelne Personen oder eine Gruppe bezogen. Sie verließen sich meistens auf ihre Oratoren, Dichter, Troubadoure, Bewahrer von Geschichte, Tradition und der Erinnerung an Dinge, die es wert waren, dass man sie nicht vergaß. Wynn musste neue Methoden der Suche entwickeln.
Nach kurzer Suche fand Wynn den Flur, der zum Hauptraum des Tempels führte, und dort zögerte sie vor dem Haupttor. Der große, runde Raum war noch immer hell vom Licht der metallenen Spiegel unter der Decke. Wynn betrachtete die große Statue, die eine Hand ausgestreckt hatte, als wollte sie … etwas anbieten?
Schatten knurrte, und Wynn stellte fest, dass die Hündin in die andere Richtung sah.
»Ah, Klöpfel sprach von Besuchern.«
Wynn drehte sich zu einer Zwergin in einem orangeroten Gewand um.
»Oh … Banê«, grüßte sie. »Könntest du mir den Weg zum Speisesaal zeigen? Shirvêsh Klöpfel erwartet mich dort zum Mittagessen.«
In den Fernländern hatte Wynn einige abstruse Geschichten gelesen, die Zwerge als knorrige, verhutzelte Höhlenbewohner beschrieben. Manche der dortigen Legenden behaupteten, dass man männliche nicht von weiblichen Zwergen unterscheiden konnte, weil beide Bärte hatten.
Welch ein Unsinn!
Diese Shirvêsh musterte Wynn von Kopf bis Fuß und neigte den Kopf beim Anblick eines »Wolfs«, der vor einer kleinen Menschenfrau Wache stand. Sie hatte langes, glänzendes schwarzes Haar, das ihr über die Schultern fiel. Die kräftige Statur und das breite Gesicht einer Zwergenfrau mochten auf manche Leute eher abstoßend wirken, aber Wynn fand diese Zwergin durchaus attraktiv. Sie wirkte nur ein wenig streng – bis sie lächelte.
»Folg mir«, sagte die Shirvêsh. »Ich bin selbst dorthin unterwegs.«
Wynn schloss sich ihr an. Nicht weit von der vorderen Tür entfernt betraten sie einen nach links führenden Flur, in dem fröhliche Zwergenstimmen von den Wänden widerhallten. Noch bevor sie den Speisesaal erreichten, nahm Wynn den Geruch von in Kräutern und Butter gedünsteten Pilzen wahr.
Sechs Shirvêsh saßen am nächsten Tisch, füllten ihre Krüge und unterhielten sich laut. Zwei weitere Tische mit hölzernen Stühlen standen zu beiden Seiten des Raums, und auf dem rechten, bei einem weiteren Torbogen, waren große Teller mit Pilzen, Ziegenkäse, gekochtem Wurzelgemüse und ein bisschen Wildbret angerichtet.
Wynn merkte, wie hungrig sie war, und sie sah, wie Speichel aus Schattens Maul tropfte.
»Junge Hygeorht!«
Shirvêsh Klöpfel stand am Ende des Tisches auf und winkte sie zu sich. Ein freundliches Lächeln erschien über seinem weißen Bart. Wynn trat näher und blieb beim Tisch mit den Tellern stehen.
»Dies duftet wundervoll«, sagte sie, füllte einen Holznapf mit Pilzen und einen weiteren mit Wildbret für Schatten.
»Wo ist dein junger Mann?«, fragte Klöpfel.
»Er ist nicht mein … Er schläft noch. Ich wollte ihn nicht wecken.«
Der Shirvêsh setzte sich, hob eine Kanne, schenkte dampfende braune Flüssigkeit in einen Becher und schob ihn Wynn zu, als sie am Tisch Platz nahm. Sie sah in den Becher, schnupperte und erkannte die Flüssigkeit als heiße Brühe.
»Danke«, sagte sie erleichtert.
Die meisten Angehörigen der Weisengilde tranken nur selten Wein, und Wynn zog Tee vor. Zwerge tranken oft Bier,
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