Dhampir: Steinerne Flut (German Edition)
Haltestation und nehmen die Tram nach Meerseite«, sagte Wynn. »Vielleicht bleiben wir einige Tage fort.«
»Ihr seid jederzeit willkommen«, entgegnete Klöpfel ruhig.
Als Wynn durch den Hauptflur eilte, dachte sie über die Reaktion des Shirvêshs nach. Über Bäalâle Seatt hatte Klöpfel nichts gesagt, und sie beschloss, ihn bei nächster Gelegenheit noch einmal danach zu fragen. Was Thallûhearag betraf …
Der Shirvêsh hatte von einem Titel gesprochen, nicht von einem Namen, und von etwas , das aus den Erinnerungen seines Volkes fast getilgt war. Für eine auf mündliche Überlieferungen fixierte Kultur, in der geschätzte Personen in erinnerten Geschichten weiterlebten, lief das auf eine überaus strenge Verurteilung hinaus. Und warum der Abscheu? Um wen oder was es auch ging: Der Shirvêsh wünschte ihm den baldigen Erinnerungstod. Und doch betraf es etwas, das einen Titel bekommen hatte, der es über das Gewöhnliche erhob.
Es war alles sehr verwirrend, und so sehr sich Wynn auch bemühte: Sie war nicht imstande, die Bedeutung des Wortes »Thallûhearag« zu ergründen. Vielleicht stammte es aus einer älteren Version des Zwergischen, einer Sprache, die im Lauf der Zeit starken Veränderungen unterlegen war.
Als Wynn an dem runden Zimmer mit den Metallspiegeln vorbeikam, kehrten ihre Gedanken zu Chane zurück.
Schatten und sie waren nicht die Einzigen, die Nahrung brauchten; auch Chane musste seine Kräfte erneuern. Wynn dachte nicht gern über sein »Essen« nach, aber sie konnte nicht erlauben, dass er hungerte. Das wäre unhöflich gewesen, sogar gefährlich. Wynn sah auf Schatten hinab und fragte sich, wie viel die Hündin erfahren durfte.
Dann drehte sie sich um und eilte zur großen marmornen Doppeltür des Tempels.
»Komm, Schatten. Vor der Abenddämmerung haben wir noch etwas zu erledigen.«
Chane öffnete die Augen und sah mattes Licht, das durch die Schlitze im Deckel des Behälters kam. Ein Moment der Verwirrung verstrich, und als er sich aufsetzte, fiel ihm die vergangene Nacht ein. Er befand sich in einem Tempel, einem »Ewigen« der Zwerge gewidmet, und er war voll angekleidet ins Dämmern gesunken.
Er stand auf und strich Hose und Hemd glatt. Ohne einen bewussten Gedanken überprüfte er die Innentasche des Mantels.
Der Zylinder mit der alten Schriftrolle war noch da, stellte er beruhigt fest.
Der Wunsch, das Geheimnis der Schriftrolle zu lüften, hatte ihn zu Wynn gebracht. Es war ein Grund für ihn gewesen, zu ihr zurückzukehren. Wenn er die Rolle verlor … Damit hätte er, von ihrem Geheimnis ganz abgesehen, auch das Recht verloren, sich in Wynns Welt aufzuhalten.
Die Rucksäcke standen noch immer dort auf dem Boden, wo er sie zurückgelassen hatte, und das Schwert lehnte an ihnen. Beide wiesen Flecken auf, die an eine Nacht vor zwei Jahren erinnerten; damals hatten Welstiel und er ein sinkendes Schiff verlassen und waren an Land geschwommen. Chanes eigener Rucksack enthielt größtenteils persönliche Gegenstände, aber auch einige Texte und Pergamente, die aus einem Kloster von Heilern stammten. Auch sie waren fleckig vom Wasser, obwohl er sie vor dem Verlassen des Schiffes sorgsam eingewickelt hatte.
Wynn wusste nichts von ihnen. Und vermutlich war es auch besser, dass sie nichts davon erfuhr, wenn man berücksichtigte, was Welstiel mit jenen Mönchen angestellt hatte. Es war Chane falsch erschienen, die Texte in dem Kloster zurückzulassen, und deshalb hatte er sie mitgenommen.
Die meisten waren auf Altstrawinisch verfasst, und diese Sprache konnte er einigermaßen lesen. Sein besonderes Interesse galt einem akkordeonartigen Buch mit mehrmals gefalteten Seiten aus dickem Pergament zwischen grau gewordenen Lederdeckeln. Der Titel lautete: Die sieben Blätter von … etwas. Das letzte Wort ließ sich nicht mehr entziffern.
Zwar gehörten die Texte Mönchen, die ermordet oder in Vampire verwandelt worden waren, aber Chane sah sich jetzt als ihr Hüter. Es gab sonst niemanden mehr, der sich um sie kümmern konnte.
Diese Empfindungen bezogen sich nur auf den Inhalt des ersten Rucksacks, nicht aber auf den des zweiten, der Welstiel gehört hatte.
Chane hatte ihn in jener Nacht im eisigen Schloss gestohlen, als er Welstiel an Magiere verraten hatte. Er ging in die Hocke, öffnete den Rucksack und betrachtete seinen arkanen und vielleicht auch profanen Inhalt. Die Objekte befanden sich jetzt in seinem Besitz, doch in seiner Vorstellung waren sie noch immer Welstiels
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