Dhampir: Steinerne Flut (German Edition)
ihr Nachthemd und streichelte Schattens Kopf.
»Zumindest das Mittagessen dürfte kein Problem sein«, sagte sie.
Schatten jaulte leise, und Wynns Kopf war plötzlich von Bildern erfüllt, die ihr eine Stadt voller Leben zeigten. Neben der Hündin, die viel mehr war als ein Tier, ging sie in die Hocke.
Schattens Vater Chap stammte aus dem Volk der Feen: Geistwesen, die alles Existierende durchdrangen. Er hatte sich dazu entschieden, als Majay-hì geboren zu werden, als einer der von Feen beseelten Wölfe, von denen die Legenden berichteten. Seine doppelte Natur – ein Feenwesen in einem von Feen abstammenden Körper – gab ihm die Fähigkeit, die Erinnerungen der Personen in seinem Blickfeld wahrzunehmen. Während der Reise durch das Reich der Elfen hatte Chap Schattens Mutter kennengelernt, eine wahre Majay-hì, von Wynn Seerose genannt. Majay-hì kommunizierten mithilfe von Erinnerungen, die sie bei Berührungen austauschten; es war ihre »Erinnerungssprache«.
Schatten hatte eine Mischung von beidem geerbt, der Erinnerungssprache und dem Betrachten von Erinnerungsbildern. Aber ihr fehlte die Möglichkeit, sich gedanklich mit Wynn zu verständigen. Dafür war sie imstande, der jungen Weisen Bilder zu schicken, wenn sie sich berührten. Soweit Wynn wusste, war kein anderer Majay-hì zu so etwas imstande, und sie hatte auch nie von Menschen mit einer derartigen Fähigkeit gehört.
Von Schatten wachgerufene Erinnerungen an das Stadtleben weckten in ihr den Wunsch, die Hündin zu trösten.
»Ich weiß, du magst keine Orte mit vielen Leuten«, sagte sie sanft. »Aber unsere Suche beginnt hier.«
Sie richtete sich wieder auf und stellte fest, dass ihr Rucksack neben der Tür stand. Der lange Stab mit dem von Leder abgedeckten Sonnenkristall am oberen Ende lehnte daneben an der Wand.
Wynn griff in die Tasche und vergewisserte sich, dass sie nach wie vor die von Domin il’Sänke angefertigte Schutzbrille hatte. Sie brauchte die mit Zinn eingefassten Gläser, wenn der Kristall aktiv wurde und zu strahlen begann. Dann verdunkelten sich die Gläser und schützten die Augen, ohne ihr ganz die Sicht zu nehmen.
Es widerstrebte Wynn, ihre Sachen zurückzulassen, und fast hätte sie der Versuchung nachgegeben, den Rucksack zu öffnen und nachzusehen, ob noch alles da war. Sie brauchte sich keine Sorgen zu machen; hier würde ihr niemand etwas stehlen.
Wynn wandte sich der Tür zu, doch schon nach einem Schritt blieb sie stehen.
Der Sonnenkristall des Stabs war unersetzlich, ihre einzige Waffe gegen die Edlen Toten. Aber wenn sie den Stab mit sich durch den Tempel trug, würde sie Aufmerksamkeit erregen. Wynn zwang sich, das Zimmer ohne ihn zu verlassen, hielt dabei die Tür für Schatten auf.
Chanes Tür war noch geschlossen. Er würde bis Sonnenuntergang »schlafen«, und deshalb störte Wynn ihn nicht. Sie brauchte auch nicht zu befürchten, dass jemand seine wahre Natur entdeckte: Niemand würde es wagen, sein Zimmer zu betreten, solange er ruhte.
In der Bibliothek des eisigen Schlosses, aus der die alten Texte stammten, hatte Chane eine besondere Schriftrolle gefunden, und zwar genau jene, die Li’kän, die älteste Vampirin auf der ganzen Welt, zuvor Wynn gezeigt hatte. Was noch erstaunlicher gewesen war: Wynn hatte den Text nicht lesen können, denn jemand hatte ihn vor langer Zeit geschwärzt.
Später, als Chane zu ihr nach Calm Seatt gekommen war, hatte Wynn einen Teil der Schrift mit ihrer mantischen Sicht erkennen können: eine lange Passage aus Versen und seltsamen Metaphern, geschrieben mit dem Blut eines Untoten und in einem alten sumanischen Dialekt. Wynn hatte einen Teil davon übersetzt, doch der Text ergab kaum einen Sinn. Dennoch vermuteten sie und Chane, dass die Schriftrolle mit dem in Zusammenhang stand, was der Wrait suchte.
Warum sollte ein Edler Toter etwas mit seinem eigenen Blut schreiben und die Worte dann mit Tinte schwärzen? Warum die Schriftrolle nicht einfach beseitigen, wenn niemand den Text lesen sollte? Und warum hatte Li’kän gewollt, dass Wynn ihn las?
Wynn schob die Fragen beiseite, als sie durch den Flur ging, und konzentrierte sich auf die jetzt zu erledigende Aufgabe. Es ging darum, die alten Texte zu finden; alles andere kam später. Leider hatte sie nur wenige Anhaltspunkte, eigentlich kaum mehr als ein Wort, das sie in Domin Hochturms Arbeitszimmer gehört hatte:
Hassäg’kreigi, die Steingänger.
Zwei schwarz gekleidete Zwergenkrieger hatten Hochturm einen
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