Dhampir: Steinerne Flut (German Edition)
Ähnliche Zeichen fand Wynn auf der Rückseite der ersten Wand. Auch an den Seitenwänden des »Saals«, der tatsächlich ein Saal war, gab es zahlreiche Schriftzeichen und Symbole, meistens in Zweiergruppen angeordnet, und sie reichten fast ganz bis zur Decke empor.
So etwas hatte Wynn bisher noch nie bei den Zwergen gesehen, nicht einmal bei ihrem Besuch mit Domin Tilswith. Doch in einem Tempel, der einem Dichter-Ewigen geweiht war, erschien ihr dies angemessen.
»Steinworte«, flüsterte sie. »In Stein gemeißelte Worte.«
Zwerge zeichneten nur das auf, was sie für wichtig und würdig genug hielten, um es auf diese Weise zu bewahren, wie zum Beispiel die Lehren von Vater-Zunge. »In Stein gemeißelt« bedeutete: Was gesagt worden war, durfte nicht in Vergessenheit geraten.
Schatten schob sich an Wynn vorbei und beschnüffelte die Rückseite der Zwischenwand. Die junge Weise folgte ihr und strich mit den Fingern über die Zeichen und Symbole. Diese Worte konnte sie nicht nur sehen, sondern auch fühlen . Ehrfurcht erfasste sie, als ihre Finger von einer Zeichengruppe zur nächsten glitten.
»Geschichten«, hauchte sie.
Einige dieser Zeichen sah sie jetzt zum ersten Mal. Vielleicht waren sie älter als die ihr vertraute Schriftform des Zwergischen. An der Rückseite der dritten Zwischenwand verharrte sie bei einer seltsamen Vubrí . Wynn glaubte, diese Zeichenkombination schon einmal an einer anderen Stelle in diesem Raum gesehen zu haben, und sie versuchte sie zu entziffern.
Lhärgnæ?
Sie runzelte die Stirn und dachte an den Unterricht bei Domin Hochturm zurück.
Das alte zwergische Stammwort »Yarghaks« bedeutete »Abstieg« im Sinne eines nach unten führenden Ortes oder eines Hangs. Im Vokativ wurde es »Lhargagh« ausgesprochen, doch eine so förmliche Deklination deutete auf eine Bezeichnung oder einen Titel hin. Und das alte, seltene Suffix »-næ« oder »-æ« stand für ein Nomen proprium, sowohl im Plural als auch im Singular.
Wynn kannte die Buchstaben und Vubrí für Bäynæ, die Ewigen. Dieser Bezug erschien oft in den Passagen, die sie gelesen hatte. Seltsamerweise erinnerte sie sich nicht daran, den Begriff »Lhärgnæ« in einfachen Buchstaben geschrieben gesehen zu haben. Die entsprechende Vubrí wies große Ähnlichkeit mit der für die Bäynæ auf.
»Lhärgnæ … die Gefallenen?«
Sie las weitere Zeilen, und wieder erschien die sonderbare Vubrí , diesmal in einem Satz, der auch die Ewigen erwähnte. Sie kehrte zum Anfang des Satzes zurück und las erneut, langsamer und mit noch größerer Aufmerksamkeit.
Unsere Ewigen-Ahnen heben unsere Tugenden über unsere Laster und bewahren uns vor den … Lhärgnæ.
Wynn zögerte nachdenklich. Sie kannte einige »Tugenden« der Zwerge – Rechtschaffenheit, Mut, Pragmatismus und Erfolg. Hinzu kamen Sparsamkeit, Barmherzigkeit Bedürftigen gegenüber und Verteidigung der Unschuldigen und Schutzlosen. Die möglichen Laster waren zumindest teilweise das Gegenteil davon.
Zwerge glaubten, dass die Ewigen zum spirituellen Teil dieser Welt gehörten. Sie wurden nicht wie Elfen davon getrennt und in eine andere Sphäre gerufen, und sie wechselten auch nicht ins Jenseits, wie es viele Religionen der Menschen lehrten. Die Bäynæ waren die verehrten Ahnen des ganzen Volkes, und die Zwerge glaubten sie vor allem dort präsent, wo sich viele von ihnen versammelten. Sie gingen davon aus, dass die Bäynæ immer bei ihnen waren, wohin sie auch gingen.
Welchen Platz nahmen die Lhärgnæ – die Gefallenen – in der spirituellen Zwergenwelt ein?
Wynn trat an der Wand entlang und suchte nach weiteren Stellen, an denen die seltsame Vubrí erschien. Dicht über dem Boden wurde sie fündig. Dort wiederholte sich die Symbolgruppe in einem Satz mit den Wörtern »Aghlédaks« und »Brahderaks«, Feigheit und Verrat. Der Rest des Satzes enthielt so viele unbekannte Zeichen, dass sie ihn nicht verstand.
Wynn richtete sich auf und seufzte enttäuscht.
Sie hatte gehofft, dass es einfacher sein würde. Immerhin war sie eine Weise und beherrschte ein halbes Dutzend Sprachen und Dialekte fließend und weitere zumindest teilweise. Noch mehr Sprachen und Dialekte konnte sie lesen.
Als sie sich umdrehte, lag Schatten am anderen Ende der Wand, den Kopf auf den Pfoten, und beobachtete sie.
Für die Hündin war dies alles langweilig.
Ein oder zwei Sekunden lang wünschte sich Wynn, dass stattdessen Chap bei ihr gewesen wäre. Seinem Rat verdankte sie es, dass sie
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