Dhampir: Steinerne Flut (German Edition)
Geschichte zu erzählen.
Er erzählte sie, ohne Gegenleistungen zu erwarten, am richtigen Ort für ein Erzählen, und als die Geschichte von Reinstahl und Nachtbrand geendet hatte, war es still im Begrüßungshaus. Selbst die Bediensteten standen wie erstarrt, wie totes Holz, das im Lauf der Jahrhunderte fest wie Stein geworden war. Doch die Stille dauerte nicht lange.
Habgier hatte von dem Erzählen im Begrüßungshaus erfahren.
Zuerst konnte er es kaum glauben, denn jede Art von Unterhaltung war sehr selten geworden. Er ging los, um es sich selbst anzusehen, und blieb in der Tür stehen. Da er spät eintraf, hörte er nur den letzten Teil der Geschichte. Zwar kostete es ihn nichts, aber er war trotzdem enttäuscht und sogar verärgert, als hätte er eine wertvolle Münze für etwas bezahlt, das er nicht ganz bekam.
Habgier gab seinem Drängen nach.
Er bat den armen Dichter um eine weitere Geschichte – gesungen, erzählt oder in Reimen vorgetragen –, aber nur für ihn. Als Bezahlung für diesen persönlichen Dienst bot er ihm ein Viertel des kleinsten Silberstücks der Churvâdìné an.
Wynn hielt inne und runzelte die Stirn. Das alte Wort klang vertraut. Dené war in der aktuellen Zwergensprache das Wort für alle »Menschen«: Numaner, Sumaner und die Angehörigen der übrigen Völker. Aber einst waren die Menschen Churvâdìné genannt worden.
Was so viel bedeutete wie »die Verwirrten« oder »das gemischte Volk«.
Niemand sagte etwas zu Habgiers Angebot, denn niemand sonst hatte eine Münze übrig. Alle warteten gespannt auf die Antwort des Dichters.
Aber Vater-Zunge schüttelte langsam den Kopf und lehnte ab.
Er würde eine weitere Geschichte erzählen – oder vielleicht auch zwei, oder ein Lied singen oder ein Gedicht vortragen, das den Zuhörern das Herz brechen konnte –, aber ohne Bezahlung, und nur für jene, die so arm waren, dass sie ihm nicht einmal einen Schluck Bier anbieten konnten. Er würde seine Geschichten nicht für Münzen verkaufen, wie einen gehorteten Besitz.
Da wurde Habgier zornig.
Er glaubte, dass der arme Dichter entweder zu hochmütig oder zu dumm war, sich für seine Geschichten bezahlen zu lassen. Stattdessen vergeudete er seine Fähigkeiten an die Unwürdigen und Armen.
Aber der falschen Thänæ gab nicht auf.
Habgier verdoppelte den Preis – und Vater-Zunge lehnte erneut ab.
Habgier bot noch mehr, und noch mehr, aber jedes Mal schüttelte der Dichter den Kopf. Er machte ihm ein weiteres Angebot, obwohl ihn der hohe Preis schmerzte, diesmal für ein Erzählen, an dem auch die Clan-Ältesten teilnehmen sollten. Es bedeutete, dass die Ältesten in den Genuss kostenloser Unterhaltung kamen, und dafür hätten sie in seiner Schuld gestanden.
Vater-Zunge lehnte erneut ab. Und dann machte er einen Gegenvorschlag.
Er würde nur dann erzählen, wenn alle Seatt-Bewohner zugegen sein durften. Das Erzählen würde auf dem Hügel im großen Amphitheater stattfinden, wo sich die Ältesten vor dem ganzen Stamm berieten.
Habgier wollte sich nicht von einem dahergelaufenen Straßenkünstler übertrumpfen lassen.
Fast hätte er das Angebot zurückgewiesen, aber im letzten Moment hielt er sich zurück. Wenn die Clan-Ältesten für ein privates Erzählen in seiner Schuld gestanden hätten … Um wie viel größer war dann sein Gewinn, wenn alle Bewohner des Seatt zuhörten? Es wäre sicher nicht leicht gewesen, eine solche Schuld einzutreiben, aber alle hätten gewusst, wem sie verpflichtet waren.
Habgier erklärte sich einverstanden.
Vater-Zunge verneigte sich würdevoll vor dem falschen Thänæ, und Habgier führte ihn auf die Kuppe des Hügels und ins Theater. Sie brauchten nicht lange zu warten.
Das bevorstehende Erzählen sprach sich schnell herum, und innerhalb kurzer Zeit fand sich der ganze Seatt ein. Die Leute nahmen Platz, und es herrschte ein großes Stimmengewirr, bis der Dichter seinen dicken Eisenstab hob und dreimal damit auf den Boden klopfte. Daraufhin wurde es still.
Vater-Zunge begann mit seiner zweiten Geschichte.
Er erzählte drei aufeinanderfolgende Episoden, und ihnen folgte keine Stille. Jubel erklang, Füße stampften, Hände schlugen auf Stein, erst zögernd, wenn auch nicht aus Mangel an Begeisterung. Viele Blicke richteten sich auf Habgier, der ganz vorn saß, in der Mitte der Ältesten.
Seine Augen waren glasig.
Der falsche Thänæ befand sich noch immer in der Traumzeit der Geschichte, und der arme Dichter wartete in höflichem Schweigen.
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