Dhampir: Steinerne Flut (German Edition)

Schmiedin senkte nicht einmal den Blick. Als der letzte Shirvêsh die Bühne verlassen hatte, verklang der Gesang. Wynn beobachtete, wie der düstere, unsichere Ausdruck auf Klöpfels Gesicht zurückkehrte. Carrow sprach einige scharfe Worte, und der Krieger-Thänæ biss die Zähne zusammen. Der junge Shirvêsh runzelte die Stirn.
    Wynn reckte den Hals und bedauerte, nicht hören zu können, worüber sie sprachen. Sie trat einen Schritt vor und sah nach rechts und links, um festzustellen, ob sie sich der Gruppe unbemerkt nähern und sie belauschen konnte.
    Chanes Hand schloss sich um ihren Arm.
    Wynn versuchte, sich aus seinem Griff zu lösen, aber er ließ nicht los. »Ich versuche nur …«
    »Still!«, krächzte er.
    Auch Chanes Blick galt Klöpfel und den vier anderen.
    Seit ihrer ersten Begegnung mit Magiere, Leesil und Chap hatte Wynn mehrmals Gelegenheit bekommen, Edle Tote zu beobachten. Nicht nur ihre Haut war bleich; auch die Augen verblassten im Tod, behielten allerdings ein bisschen von ihrer ursprünglichen Farbe.
    Das Braun verschwand aus Chanes Augen, und Wynn erschauerte, als sie so farblos wurden wie Eis.
    Als Chane Wynn am Arm ergriff, hörte er Schatten knurren. Wynn versuchte, ihren Arm aus seinem Griff zu lösen, aber er wollte nicht zulassen, dass sie sich zu der Gruppe schlich und lauschte. Sein Blick blieb auf Klöpfel und die anderen Zwerge in seiner Nähe gerichtet. Als der Gesang aufhörte, herrschte für kurze Zeit Stille im Amphitheater, und Chane erweiterte seine Sinne, konzentrierte sich auf die leisen Stimmen der Zwerge.
    Im Gegensatz zu den anderen Zwergen in der Gruppe wirkte Carrow nicht kummervoll, sondern vor allem zornig.
    » Heârva! «, zischte er.
    Was auch immer das bedeutete: Der nächste Thänæ presste die Lippen zusammen, und der weiß gekleidete Mönch runzelte wortlos die Stirn. Chane fragte sich, ob sie Carrows Meinung nicht teilten oder ob sie nur nichts davon hielten, dass er sie offen geäußert hatte. Was auch immer der Fall sein mochte, die anderen widersprachen dem jungen Zwerg nicht.
    Chane hörte, wie Wynn nach Luft schnappte, hielt den Blick aber auf Klöpfel und die vier anderen gerichtet.
    »Deine Augen … was ist mit …«, begann sie, brachte den Satz aber nicht zu Ende. »Was machst du?«
    »Ich versuche zu lauschen.«
    »Warum? Du verstehst doch gar kein Zwergisch.«
    Das stimmte, und zweifellos verstand er erst recht nichts, wenn sie ihn störte. Wenn er sich ganz auf das Gespräch konzentrierte, hörte er vielleicht irgendetwas, das Wynn übersetzen konnte.
    »Man würde dich bemerken, wenn du versuchst, die Zwerge zu belauschen«, sagte er.
    »Von hier aus kannst du bestimmt nichts hören«, erwiderte sie leise. »Oder?«
    »Nicht wenn du redest!«
    Wynns Intelligenz und Bildung waren über jeden Zweifel erhaben, doch das galt nicht für ihre Klugheit. Sie traf nicht immer die richtigen Entscheidungen. Ihre Unbesonnenheit hatte sie bereits eine mögliche Informationsquelle gekostet.
    Klöpfel beugte sich zu dem Weiß tragenden Mönch und flüsterte etwas, das Chane entging. Enttäuscht sah er auf Wynn hinab.
    »He-air-var«, sagte er und versuchte, das Wort richtig auszusprechen. »Was bedeutet das?«
    »Du meinst … Heârva ?«, fragte sie, und Chane nickte. »Ein Verb in der Vergangenheitsform. Das Stammwort heißt heâr und bezieht sich auf ›Massaker‹. Die Übersetzung lautet also ›massakriert‹.«
    »Wie ›getötet‹ oder ›umgebracht‹?«
    »Nein, das Stammwort für Töten oder Hinrichten lautet marû . Von der Struktur her ähnelt die Zwergensprache dem Elfischen, aber es gibt in ihr genauere Bezeichnungen für …«
    »Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt für Sprachunterricht!«
    Wynn zog verärgert die Stirn kraus. » Heâr ist das Konzept für ›Massaker‹, das Töten von jemandem, der sich nicht wehren kann, oder dessen Gegenwehr nichts nützt!«
    Ein Teil ihres Ärgers verflog, als sie zu der Zwergengruppe sah.
    »Was geht da drüben vor sich?«, flüsterte sie.
    Das hätte Chane auch gern gewusst.
    Nur Klöpfel und der weiß gekleidete Mönch sprachen miteinander; die drei Krieger hörten schweigend zu. Wynns Frage ging Chane nicht aus dem Kopf, als er zur Bühne sah, und zur Leiche unter dem grauen Tuch.
    Hammer-Hirsch mochte ein Angeber und Aufschneider gewesen sein, aber hilflos hatte er nicht gewirkt. Er war sehr kräftig gewesen, durchaus imstande, sich zu verteidigen. Was machte Carrow während einer Trauerfeier so