Dhampir: Steinerne Flut (German Edition)
versucht haben, Schatten von ihr wegzuziehen, und dabei war er gebissen worden.
»Hört auf, ihr beide!«, flüsterte Wynn und sah Chane an. »Sie wollte mir nichts tun.«
Chanes Blick ging kurz zu Wynn, doch Schatten rührte sich nicht von der Stelle. »Schatten«, flüsterte Wynn. »Es reicht.«
Die Hündin drehte sich und knurrte nicht mehr. Sie kam näher und senkte denn Kopf, war aber immer noch so groß, dass sich ihre Augen auf einer Höhe mit denen von Wynn befanden.
Wynn sah in diese hellblauen Augen, streckte zögernd die Hand aus und strich mit den Fingern über Schattens Hals. Deutlich spürte sie das Zittern der Hündin.
Schatten jaulte erneut; es klang kummervoll und unsicher.
»Du hast es nicht gewusst«, hauchte Wynn. »Du hast nicht gewusst, dass du bei mir dazu imstande bist, nicht wahr?«
»Was geht hier vor?«, fragte jemand.
Die scharfe Stimme veranlasste Wynn, den Kopf zu heben.
Shirvêsh Klöpfel stand dort, die Hände in die Hüften gestemmt.
»An diesem Ort findet eine Trauerfeier statt; ein derartiges Verhalten ziemt sich hier nicht«, knurrte er und wandte sich verärgert an Chane. »Dass ihr euch hier aufhalten dürft, ist ein Privileg. Benehmt euch entsprechend.«
Wynn verzog das Gesicht und suchte nach einer Erklärung, aber Chane kam ihr zuvor.
»Was bedeutet He-air-va ?«, fragte er Klöpfel. »Von welchem ›Massaker‹ habt ihr gesprochen?«
Der Shirvêsh wich verblüfft einen Schritt zurück.
»Chane, nein!«, warnte Wynn, aber es war bereits zu spät.
Klöpfel stand sprachlos da, doch er erholte sich schnell von seiner Überraschung.
»Ich antworte keinem Dieb, der Worte stiehlt, die ihm nicht gegeben wurden«, sagte er.
Wynn stand schnell auf. Klöpfels Worte deuteten auf etwas hin, das schlimmer war als Lauschen; immerhin war er der Mönch eines Ewigen in einer Kultur der mündlichen Überlieferung.
»Bitte, Shirvêsh«, sagte sie. »Wir haben keine Zeit für Förmlichkeiten. Was ist im zertrümmerten Tunnel geschehen? Wie starb Hammer-Hirsch?«
Klöpfel richtete einen erstaunten Blick auf Wynn, und seine unausgesprochene Frage lautete: Was wusste sie?
»Es könnte sehr wichtig sein«, fügte die junge Weise hinzu. »Wir müssen Bescheid wissen.«
Der alte Shirvêsh starrte sie an, als hätte er sie beim Stehlen in seinem Tempel ertappt.
»Nichts ist gewiss«, erwiderte er schließlich. »Abgesehen davon, dass ein heftiger Kampf stattgefunden hat. Passanten fanden ihn und riefen die Wachen. Der Fund stellte alle vor ein Rätsel, Hammer-Hirschs Streitaxt lag neben seiner Hand, und wie du selbst gesagt hast: Der Tunnel wirkte zertrümmert. Aber man fand nirgends Blut. Nicht ein einziger Axthieb scheint den Angreifer getroffen zu haben, und Hammer-Hirsch selbst wies keine Wunden auf. Er war nur … bleich, hatte die Augen noch immer geöffnet … Sein Herz scheint einfach versagt zu haben, und anschließend muss ihm das Blut aus dem Gesicht gewichen sein.«
Wynn spürte, wie es ihr bei diesen Worten kalt über den Rücken lief. Hammer-Hirsch galt als Krieger. In dem schmalen Tunnel, den Schatten ihr gezeigt hatte … Wie konnte es sein, dass er seinen Gegner nicht ein einziges Mal getroffen hatte?
Ein Donnerschlag ging durchs Amphitheater, und sofort wurden die versammelten Zwerge still. Vier weitere Trommelschläge hallten von den hohen, gewölbten Wänden wider, und Klöpfel drehte sich um.
Er blickte zur Bühne, und Wynn hörte, wie er zischend Luft holte. Ihr Blick folgte seinem, und plötzlich vergaß sie alles andere.
Aus einer der quadratischen Öffnungen hinter der Bühne kamen sechs Zwerge, alle in Schwarz und Dunkelgrau gekleidet. Die Trommel schlug weiterhin, im Takt mit den Schritten. Wynn bemerkte, dass zwei von ihnen Frauen waren, ebenso gekleidet wie die Männer, und dann konzentrierte sie ihre Aufmerksamkeit auf den Anführer.
Schwarzes, von stahlgrauen Strähnen durchsetztes Haar umrahmte ein altes Gesicht mit breiter Nase über einem Mund, der von einem kurzen grauen Bart umgeben war. Wie die anderen trug er eine dunkelgraue Kniehose und ein Hemd unter einer Panzerweste aus schwarzen, seltsam glänzenden Lederschuppen. Im matten Licht dauerte es einige Sekunden, bis Wynn sah, woher das Glitzern stammte: von stählernen Spangen an der Spitze einer jeden Lederschuppe.
Wynn hatte diesen Mann schon einmal gesehen, in der Tür von Domin Hochturms Arbeitszimmer. Sie erinnerte sich nicht nur an seine Kleidung, sondern auch an sein Gesicht und
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