Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
versuchte, verschiedene Begriffe zu verstehen, gewann dabei den Eindruck, dass die einzelnen, von Strichen getrennten Abschnitte unterschiedlichen Autoren zuzuschreiben waren, die das Geschehen aus ihrer jeweiligen Perspektive schilderten. Aber ein Aspekt der Texte blieb gleich.
Einzelheiten wie zum Beispiel die Anzahl der gefallenen Kämpfer, eroberten Territorien und getöteten Feinde wurden als kalte Fakten in der Vergangenheitsform genannt. Als spielten Tod und Leid für jene, die später alles aufgeschrieben hatten, überhaupt keine Rolle. Die zahllosen Toten schienen den Chronisten nicht mehr zu bedeuten als eine Aufzählung verlorener Gegenstände.
Die Zahlen waren … enorm, schier unglaublich.
Wynn dachte an die Originaltexte, aus denen diese Passagen stammten. Sie erinnerte sich daran, dass sie zusammen mit Chap nach Büchern über die Vergessene Geschichte gesucht hatte. Bei einem hatte sie den Eindruck gewonnen, dass es über vergangene Ereignisse berichtete, etwa die Beschreibungen der Feldzüge eines Generals. Chap hatte ihr geraten, jenes Buch wegen seine vielen präzisen Angaben mitzunehmen.
Nach welchen Kriterien hatten ihre Oberen entschieden, welche Seiten zuerst übersetzt werden sollten? Nach dem Thema? Nach dem geschätzten Zeitpunkt der Niederschrift?
Sie nahm eine andere Blattsammlung und suchte nach Anmerkungen des Übersetzers, die Auskunft über die Chronologie gaben. Selbst wenn seltsame Datumsangaben existierten: Sie erschienen vage und bezogen sich nicht auf bestimmte Texte. In den meisten Fällen fehlten Hinweise auf den Zeitpunkt, wodurch es sehr schwer wurde, die Texte in die richtige zeitliche Reihenfolge zu bringen.
Wynn rieb sich die Augen. Der auf den Jahreszeiten basierende, in Drittel unterteilte Elfenkalender war vor 483 Jahren eingeführt worden, als König Hräthgar die Land-Clans geeint und damit den Grundstein für das Königreich Malourné gelegt hatte. Von jener Zeit an sprach man von der »Gemeinsamen Ära«. Aber wie viele Jahrhunderte oder Jahrtausende waren dieser Ära seit der Vergessenen Geschichte vorausgegangen? Das wusste niemand, angeblich nicht einmal die Elfen, die Lhoin’na.
Mit den von den Autoren der alten Texte stammenden Datumsangaben ließ sich kaum etwas anfangen. Es gab keine Bezugspunkte, die es ermöglicht hätten, jene verlorenen Kalender mit der neuen Zeitrechnung in den Numanischen Ländern zu vergleichen.
Wynns alter Meister Domin Tilswith glaubte, dass der Krieg vor über tausend Jahren stattgefunden hatte. In dieser Hinsicht war niemand sicher, nicht einmal in der Gilde, und die großen Zeiträume machten es schwierig festzustellen, welche Ereignisse in der Vergangenheit tatsächlich stattgefunden hatten.
Wynn begriff, warum gewisse Personen in der Gilde dies alles geheim halten wollten.
Ohne Beweise und klare Zeitangaben konnte man dies alles für Spekulationen halten, für eine Sammlung von Erzählungen, die verschiedene Zeiten und Orte betrafen, und nicht denselben Krieg, der die damals bekannte Welt verwüstet hatte.
Verschiedene Ideologien und Religionen, darunter die vier wichtigsten der Numanischen Länder, gingen davon aus, dass der Krieg nie stattgefunden hatte. Und wenn doch, so war er nicht so groß und katastrophal gewesen, wie manche Legenden behaupteten. Wynn wusste, dass die königliche Familie alles vermied, was Unruhe und Konflikte unter der Bevölkerung schaffen konnte. Selbst wenn es konkrete Beweise gab: Was konnte bedrohlicher sein als etwas, das alle bisherigen Überzeugungen als falsch entlarvte?
Wenn bekannt wurde, was Wynn glaubte und wovon der Älteste Vater überzeugt war, dass der alte Feind zurückkehrte … Dann mochte es zu erheblichen Unruhen kommen. Angst würde sich ausbreiten, eine Angst, die die Grundfesten der gegenwärtigen Gesellschaft erschütterte.
Wynn versuchte, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. War es das, wonach der untote Mörder suchte, nach Beweisen für die Rückkehr des Feinds? Aber warum? Sie bemühte sich, keine Schlüsse zu ziehen. Jetzt verstand sie wenigstens die Sorge von Hochturm und Skyion, und auch il’Sänkes Warnung.
Sie machte sich daran herauszufinden, welche im Kodex verzeichneten Seiten und Bände nicht zu dem Material gehörten, das auf dem Tisch lag – dabei musste es sich um die von der schwarzen Gestalt gestohlenen Texte handeln. Sie ging den Kodex sorgfältig durch und machte sich dabei Notizen, die den Umfang des Übersetzungsprojekts betrafen. Immer
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