Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
meinem Archiv?«
Von wegen Hilfe, dachte Wynn. Wahrscheinlich hatte man ihn aufgefordert, sie im Auge zu behalten. Hochturm oder Skyion mussten mit ihm gesprochen haben, und dadurch hatte sie einen weiteren freundlich Gesonnenen verloren.
»Sie bleibt bei mir«, sagte Wynn ohne eine Entschuldigung und ließ ihre Hand auf dem Rücken der jungen Majay-hì. »Sie wird die Regale nicht einmal berühren, das verspreche ich, doch es ist meine Pflicht, über sie zu wachen.«
»Nicht hier unten im Archiv!«, krächzte Tärpodious und stand auf.
Domin il’Sänke trat hinter Wynn hervor, ging zu dem alten Mann und flüsterte. Der Archivar sah ihn überrascht an.
»Das ist Unsinn!«, erwiderte er schroff. »Ich habe nie von jemandem gehört, der einen gesehen hat, und schon gar nicht außerhalb des Lhoin’na-Landes!«
Wynn richtete einen nachdenklichen Blick auf il’Sänke, der noch immer mit Tärpodious flüsterte. Wenn der Sumaner ihre Tagebücher gelesen hatte, so galt das auch für Andere, die am Übersetzungsprojekt beteiligt waren, und bestimmt für Hochturm. Dennoch glaubten sie den Aufzeichnungen ebenso wenig, wie ihren Mahnungen vor etwas, das weitaus gefährlicher war als ein Majay-hì.
»Na schön, wenn sie so verrückt ist«, grummelte Tärpodious. »Aber ich ziehe dich zur Verantwortung, Ghassan, wenn das Tier Schaden anrichtet.«
Wynn hoffte, dass sich Chaps Tochter ordentlich benahm, aber es gefiel ihr nicht, auf welche Weise il’Sänke die Zustimmung des alten Archivars gewonnen hatte. Tärpodious stand halb über seinen Tisch gebeugt und beobachtete sie wie ein Geier, der darauf wartete, dass sie tot umfiel.
»Aber kein Essen im Archiv«, sagte er entschieden. »Ihr müsst die Teller hier leeren oder sie zurücklassen.«
Domin il’Sänke führte Wynn zu dem Tisch, der am weitesten von Tärpodious entfernt war.
»Was hast du ihm eben gesagt?«, flüsterte Wynn.
»Wenn man dich für eine Verrückte hält oder du dich so verhältst, so nutz es wenigstens aus.«
Wynn sah auf Chaps Tochter hinab.
»Ich bin nicht verrückt«, sagte sie leise. »Und gerade du solltest das wissen.«
»Der Aufruhr im Gemeinschaftsraum deutet auf etwas anderes hin«, erwiderte il’Sänke. »Halte deine neue Freundin von den anderen Gildenmitgliedern fern. Iss jetzt. Anschließend zeigt dir Tärpodious den Platz, den er für dich vorbereitet hat.«
Damit drehte er sich um und ging. Wynn setzte sich an den Tisch und nahm den Riemen des Rucksacks von der Schulter. Einen der beiden Teller stellte sie für ihre »neue Freundin« auf den Boden. Die junge Majay-hì schnüffelte daran und begann zu lecken. Die Flüssigkeit schien ihr einigermaßen zu gefallen, aber das Gemüse rührte sie nicht an.
Wynn seufzte. »Später besorge ich dir etwas Besseres.«
Rasch leerte sie ihren eigenen Teller, steckte das Brötchen für später ein und griff nach ihrem Rucksack.
»Wo kann ich die Übersetzungen einsehen?«, fragte sie.
Tärpodious brummte und deutete zum Torbogen hinter seinem Tisch. »Dort.«
Wynn trat zum Durchgang.
Es gab nur wenige Regale in dem kleinen Zimmer: vermutlich ein alter Lagerraum, der jetzt zur Aufbewahrung von Material diente, das für die Regale sortiert werden musste. Spuren im Staub auf dem Boden deuteten darauf hin, dass die Regale vor kurzer Zeit bewegt worden waren. Ein Tisch stand in dem Zimmer, und zwar an einer Stelle, die Tärpodious von seinem Tisch aus sehen konnte.
Der alte Archivar hatte ganz offensichtlich den Auftrag, sie im Auge zu behalten.
Warum mussten Hochturm und Skyion sie immer als eine Person darstellen, der man nicht trauen konnte? Andererseits, dies war immer noch besser als gar nichts. Wenigstens hatte sie hier die Möglichkeit, zu lesen und sich Notizen zu machen.
»Danke«, sagte sie höflich und trat zum Tisch.
Vier große Blätterstapel erwarteten sie dort, ein Teil gebunden, ein anderer nicht. Daneben lag ein provisorisches Buch, mit gewachsten Schnüren zusammengebunden – der Kodex. Wynn vergaß ihren verletzten Stolz.
»Komm«, forderte sie die Hündin auf.
Ob Chaps Tochter das Wort verstand oder nicht: Sie kam der Aufforderung nach, lief langsam durch den Raum und schnüffelte.
»Du bleibst hier bei mir«, sagte Wynn leise.
Die Hündin neigte den Kopf, winselte kurz und setzte dann ihr Schnüffeln fort.
»Komm hierher«, sagte Wynn und nahm auf dem Stuhl am Tisch Platz.
Die junge Majay-hì sah sie nicht an.
Meister Tärpodious warf einen Blick über die
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