Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
in Begleitung eines großen Wolfs sah. Gemurmel erhob sich.
»Du und deine dramatischen Auftritte«, brummte il’Sänke.
Wynn gab sich ruhig und ließ sich nicht anmerken, wie erleichtert sie war, dass Domin Hochturm unter den vielen Gesichtern fehlte. Er hätte bestimmt sofort eine Erklärung von ihr verlangt. Plötzlich fiel ihr etwas ein, und sie strich mit der Hand über den Kopf von Chaps Tochter.
»Vielleicht sollte ich dich Regina Melliny und ihren Schwatztanten vorstellen«, flüsterte sie.
Die Hündin knurrte, und Wynn spürte ein Zittern unter ihrer Hand.
Sie senkte den Blick und stellte fest, dass sich die junge Majay-hì nervös umsah.
Wynns kleines Zimmer war sicher ein sonderbarer, fremder Ort für eine Majay-hì gewesen, die vor dem Erreichen dieser Stadt nur weite Wälder und vielleicht die Waldenklaven der Elfen gekannt hatte. Dieser große Saal mit den vielen Menschen musste für Chaps Tochter überwältigend sein. Wynn ging rasch zum nächsten Tisch.
»Wynn?«, rief ihr il’Sänke warnend nach.
Sie beugte sich an einigen Initiaten vorbei und griff nach zwei Tellern mit Gemüseeintopf und einem weichen Weizenbrötchen.
»He, was soll das?«, beschwerte sich jemand.
»Bist du übergeschnappt?«, stieß jemand anders hervor. »Schaff das Tier weg!«
Bevor Wynn feststellen konnte, von wem die Worte stammten, schrie der Initiat links von ihr auf.
Er sprang fast auf den Schoß eines dürren, in Hellblau gekleideten Lehrlings, der neben ihm auf der Bank saß, und sein erschrockener Blick ging zu etwas hinter Wynn.
»Hast du nicht schon genug Unheil gestiftet?«, fragte der Lehrling.
Die anderen am Tisch standen auf und wichen zurück. Direkt hinter Wynn grollte es.
»Geh weiter, Wynn!«, ertönte il’Sänkes scharfe Stimme. »Jetzt sofort!«
Sie sah zurück.
Die junge Majay-hì schlich mit einem neuerlichen Knurren näher und zitterte fast so sehr wie der erschrockene Junge. Wer hatte hier mehr Angst vor wem?
»Sie tut dir nichts«, sagte Wynn schnell und versuchte, den Jungen zu beruhigen.
Sie griff nach seiner kleinen Hand, doch der ihn festhaltende Lehrling stieß sie beiseite.
Chaps Tochter grollte, und Wynn drehte sich rasch um und streckte den Arm aus, um den Hund aufzuhalten. Sie hatte einen weiteren dummen Fehler gemacht.
Die anderen Gildenmitglieder sahen nur einen großen, dunklen Wolf, keinen Majay-hì.
Der Ausdruck bedeutete »Hund der Elemente« oder »Feenhund«, wie Wynn aus einigen Schriften und den Erzählungen von Domin Tilswith erfahren hatte. Damals war sie noch nicht einmal Initiatin, und deshalb war es für sie nur ein faszinierendes Märchen gewesen. Selbst andere, die von solchen Geschöpfen in den tiefen Wäldern von Lhoin’na wussten, hatten vermutlich noch nie eins gesehen. Das hatte niemand, auch Wynn nicht, bis sie vor zwei Jahren Chap begegnet war. Aber sie hatte ihn erkannt, sein wahres Wesen zumindest erahnt.
Doch Chaps Tochter war ganz anders. Ungeachtet ihrer Intelligenz war sie in der Wildnis geboren, in einem fernen Land, wo Menschen Feinde waren, vor denen man sich schützen musste.
Wynn begriff, dass sie gerade noch mehr Distanz zwischen sich und den anderen Mitgliedern der Gilde geschaffen hatte.
»Na los!«, drängte il’Sänke erneut. Seine Stimme erklang direkt hinter ihr.
Wynn führte die junge Majay-hì zum Seiteneingang des großen Saals. Initiaten und Lehrlinge starrten sie finster an, bis sie den Gemeinschaftsraum schließlich verließ. Auf dem Weg zur Treppe, die zu den Katakomben hinabführte, hörte sie die ganze Zeit über Domin il’Sänkes Brummen hinter sich.
Sie gingen die düstere Wendeltreppe hinunter.
Es erschien Wynn seltsam, dass il’Sänke nicht von ihr verlangt hatte, die Hündin wegzuschicken, wozu sie natürlich nicht bereit gewesen wäre. Ihr Leben in der Gilde wurde immer komplizierter. Als sie den höhlenartigen Eingangsraum des Kellerarchivs erreichten, saß Meister Tärpodious an seinem Tisch und schrieb mit einem Federkiel. Er sah auf.
»Ah, die junge Hygeorht«, begann der alte Archivar frostig.
Er schnitt eine finstere Miene, als er die Teller und das Brötchen in Wynns Händen sah. Im Archiv war kein Essen erlaubt. Dann glitt sein Blick zur Hündin, und er kniff die Augen zusammen.
»Was … ist … das ?«, fragte er. »Man hat mich gebeten, einen Ort für dich vorzubereiten, wo du den Kodex einsehen kannst, und außerdem soll ich dir helfen, wenn du Hilfe brauchst. Aber was macht das Tier in
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