Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
vor, Domin il’Sänke zu fragen, ob er dies übersetzt hatte. Sie überprüfte den Rest der Spalte und sah auch im Kodex nach, fand aber keine weiteren Hinweise. Wenn il’Sänke die Bedeutung dieser Passagen klar gewesen wäre, hätte er es bestimmt nicht versäumt, Anmerkungen für die anderen Übersetzer zu hinterlassen. Es gab keine anderen Texte, die so alt waren wie diese, und deshalb mussten sich die Übersetzer mit eigenen Querverweisen gegenseitig unterstützen.
Volynos Schilderungen wurden immer lückenhafter – immer häufiger geschah es, dass bestimmte Stellen nicht übersetzt werden konnten. Es dauerte nicht lange, bis Wynn kaum mehr zwischen möglichen Namen und unbestimmbaren Substantiven unterscheiden konnte. In der Nähe eines weiteren Bezugs auf »jene des Geliebten« stieß sie auf ein mit »Priester« übersetztes Wort.
Wynn erinnerte sich an die von Magiere erwähnten versteinerten Reste in den Tunneln und der Höhle mit der Kugel. Li’kän hatte diese uralten Überbleibsel von Verehrern keines Blickes gewürdigt. Wieder konnte Wynn die Besorgnis verstehen, die Skyion und Hochturm veranlasst hatte, den Mantel des Schweigens über diese Dinge zu breiten.
Hatte eine dunkle Religion hinter der Macht existiert, die das Ende allen intelligenten Lebens herbeizuführen versuchte?
Wynn dachte an Leute wie Rodian – wie mochten sie auf so etwas reagieren, noch dazu in Zusammenhang mit einer fernen Geschichte, die sie leugneten? Waren die Kinder ebenfalls eine Art religiöser Orden gewesen?
Nein, vermutlich nicht. Immerhin erwähnten die Texte noch andere Gruppen. Jene alten Edlen Toten mochten für heilig gehalten worden sein, aber Wynn vermutete, dass mit den Priestern die »Ehrfürchtigen« gemeint waren. Welche der übrigen Namen gehörten zur dritten Gruppe, den Fressern der Stille? Und wer oder was waren sie gewesen?
Wynn biss sich enttäuscht auf die Unterlippe, blätterte und stellte fest, dass sie bei der letzten Seite des Stapels angelangt war.
Sie suchte in den übrigen Unterlagen und verglich die Nummern auf den Bänden, fand aber keine Texte, die diesem folgten. Der Rest von Band Sieben war noch nicht fertiggestellt.
Sie hatte eine Liste mit siebzehn Namen und neun leeren Stellen, wo die Übersetzer auf unbekannte Zeichen und Symbole gestoßen waren, die vielleicht ebenfalls Namen darstellten. Was die siebzehn Namen betraf: Fünf von ihnen benannten die Kinder des Geliebten: Li’kän, Volyno, Häs’saun, Vespana und Ga’hetman.
Wynn schluckte – und zuckte zusammen, als sie plötzlich ein Knurren hörte.
»Junge Hygeorht!«, klang Tärpodious’ krächzende Stimme durch die offene Tür. »Wenn das Tier mein Archiv beschmutzt, ziehe ich dich dafür zur Rechenschaft! Es ist schon spät fürs Abendessen!«
War ein ganzer Tag vergangen? Wynn senkte den Blick.
Die Hündin sah auf, ohne ihren Kopf von den Pfoten zu heben, und Wynn fühlte sich plötzlich schuldig. Ihre neue Freundin war den ganzen Tag nicht draußen gewesen.
Sie ordnete die Blätter wieder zu Stapeln und nahm dann ihre Sachen. Als sie ihr Tagebuch schließen wollte, sah sie noch einmal auf die Liste mit den Namen. Die Majay-hì setzte sich auf und blickte über die Tischkante hinweg.
»Namen und noch mehr Namen.« Wynn seufzte, streichelte den Kopf der Hündin und dachte an den Tag, an dem sie Seerose ihren Namen gegeben hatte. »Und ich weiß noch immer nicht, wie ich dich nennen soll.«
Eine rasche Folge von Bildern strich durch Wynns Bewusstsein: Chap allein, dann zusammen mit Seerose, die beiden Köpfe aneinandergelegt; und schließlich der alte Wolfshund.
Wynn stöhnte. »Hör auf damit. Ich weiß nicht, was es bedeutet.«
Aber es hörte nicht auf. Die Bilder wurden nur langsamer, wiederholten sich jedoch.
Sie sah, wie sich Chap an Seerose lehnte, wie sein Kopf langsam an ihrem entlangstrich, wie bei der Erinnerungssprache der Majay-hì üblich. Als diesmal das Bild des Wolfshunds vor Wynns innerem Auge erschien, wurde es von einem zweiten begleitet, das einen dunkelgrauen Welpen zeigte, der mit seinen Geschwistern spielte.
Es wiederholte sich mehrmals, wobei das Bild von Chap und Seerose immer mehr verblasste, bis nur noch ihre dunkelgraue Tochter da war, die jetzt neben Wynn saß.
Wynn stand auf und kniete vor Chaps Tochter. Sie hatte keine Erfahrung mit der Erinnerungssprache, und deshalb hatte es eine Weile gedauert, bis ihr schließlich die Bedeutung der Bilder klar wurde. Ein Blick in die
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