Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
tappte vorbei, ohne ihnen Beachtung zu schenken, und Wynn folgte ihr rasch, ohne die Lehrlinge anzusehen.
Kurz darauf erreichten sie ihr Zimmer, und Wynn seufzte erleichtert. Als sie eintrat, entdeckte sie einen zusammengefalteten Zettel auf dem Boden. Ihr Name stand darauf geschrieben.
Jemand hatte ihn unter der Tür durchgeschoben, was durchaus üblich war, wenn kein Zweifel daran bestehen konnte, für wen eine Mitteilung bestimmt war. Wynn bückte sich, hob den Zettel auf und entfaltete ihn. Sie hielt unwillkürlich den Atem an, als sie die belaskischen Worte las.
Ich muss wissen, ob mit dir alles in Ordnung ist. Ich bin in einem Wirtshaus namens Natties Haus, an der Ecke Star- und Zwirnstraße, am Rand des Grauland-Reichs. Komm, wenn du kannst, und bring mir einen Mantel. Wenn nicht, schick mir eine Nachricht.
Wynn starrte auf den Zettel, und ihre Besorgnis wuchs. Was dachte sich Chane? Wenn jemand einen Blick auf seine Mitteilung geworfen hatte …
Sie wagte nicht, sich vorzustellen, was dann geschehen konnte. Wenigstens ging es ihm so gut, dass er eine Nachricht für sie schreiben konnte. Andererseits … Er schrieb, wo er wohnte, obwohl er gesagt hatte, dass sie es besser nicht erfahren sollte.
Was hatte sie ihm mit dem Sonnenkristall angetan?
»Schatten«, sagte sie. »Wir müssen noch einmal hinaus.«
Die Hündin war unter den Tisch geschlüpft, drehte den Kopf und sah sie an. Wynn überlegte, ob sie ihr ein Erinnerungsbild von Chane zeigen sollte, entschied sich aber dagegen.
Was hätte Schatten bei einem solchen Bild wahrgenommen? Am vergangenen Abend schien die junge Majay-hì nicht in der Lage gewesen zu sein, Chanes untote Natur zu erkennen. So ungewöhnlich das auch sein mochte: Schatten war von Natur aus eine Jägerin der Untoten, und Wynn hielt es für besser, ihr vorerst keine Informationen über Chane zu geben.
Sie nahm ihren Mantel und zog den Blechzylinder aus der tiefen Innentasche. Wynn wusste noch immer nicht, ob die schwarze Gestalt es darauf abgesehen gehabt hatte, aber es erschien ihr klüger, die Schriftrolle in ihrem Zimmer zu lassen. Sie schob den Zylinder unter ihre Matratze und griff dann nach dem in der Ecke lehnenden Stab.
Nachdenklich betrachtete sie das Leder, das den Kristall schützte.
Wenn Domin il’Sänke herausfand, dass sie erneut ihr Versprechen brach … Dann würde sie vielleicht nie lernen, wie man richtig mit dem Kristall umging. Aber was blieb ihr übrig? Sie konnte sich nicht auf den Weg machen, ohne eine Möglichkeit zu haben, sich zu verteidigen. Noch immer fehlte ihr eine klare Vorstellung davon, wer oder was die schwarze Gestalt war, doch das Leuchten des Kristalls hatte sie offenbar vertrieben. Vampire suchten Schutz vor Sonnenlicht.
Noch etwas anderes fiel ihr ein.
Wynn eilte zur Truhe und holt ein kleines Glas mit Heilsalbe daraus hervor. Würde dieses Mittel bei Chane wirken? Ein Versuch konnte sicher nicht schaden. Dann bemerkte sie Magieres alten Dolch in der Truhe – Wynn hatte ihn als Geschenk erhalten.
Sie starrte darauf hinab und erinnerte sich daran, dass sie ihn mehrmals benutzt hatte, auch gegen Untote, und manchmal mit katastrophalem Ergebnis. Aber vielleicht konnte er ihr nützlich sein – Wynn nahm ihn mit.
Schatten schob sich unter Wynns Arm und schnappte nach dem Futteral, in dem der Dolch steckte. Als ihre Schnauze über Wynns Hand strich, empfing die junge Weise Bilder.
Sie sah die schwarze Gestalt.
Wie ein in Stoff gehülltes Stück Nacht glitt sie durch die Rückwand eines Gebäudes.
Wynn schien in eine Gasse hinter dem Haus zu blicken, aber aus geringer Höhe, als kniete sie auf dem Kopfsteinpflaster. Aus dem Gebäude kamen die Geräusche von brechendem Holz und splitterndem Glas.
Und dann jagte alles in der Gasse an ihr vorbei. Sie lief, schnell und dicht über dem Boden, vorbei an dem Gebäude und aus der Gasse hinaus. Über eine Straße ging es weiter, ebenso schnell, in einem Bogen, der sie zur Vorderseite des Gebäudes brachte. Dort wurde sie langsamer, näherte sich dem Haus und verharrte schließlich. Über der Tür eines heruntergekommen wirkenden Ladens sah sie ein verwittertes Schild.
Shilwises »Gold und Tinte« – das Skriptorium, in dem ein Foliant zurückgelassen und gestohlen worden war. Nichts rührte sich in dem Laden.
Bis die verwitterte Eingangstür von innen her zerbarst.
Holzsplitter flogen über die Veranda auf die Straße. Die schwarze Gestalt kam durch die Öffnung, mit dem Folianten in der
Weitere Kostenlose Bücher