Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
dieser Geist, eine neue Art der Edlen Toten? Bisher hatte sie nur Vampire zu den Edlen Toten gezählt und die beiden Begriffe praktisch für austauschbar gehalten.
Es blieb Wynn nicht genug Zeit, um noch länger über das nachzudenken, was Schatten ihr gezeigt hatte. Sie nahm den Dolch, legte ihn wieder in die Truhe und zögerte erneut. Es standen noch immer Wächter beim Fallgatter. Konnte sie erneut an ihnen vorbeigelangen, diesmal mit einem großen Wolf?
Ganz unten in der Truhe sah sie ihre alte, abgenutzte Elfenkleidung.
Es war auf jeden Fall besser, außerhalb des Gildengeländes nicht im Umhang einer Weisen gesehen zu werden. Rasch zog sie sich um und streifte den alten Mantel über.
Dann spähte sie in den Flur vor ihrem Zimmer. Als sie niemanden sah, brach sie mit Schatten auf. Vor dem Hof zögerte sie erneut und eilte dann hinüber, aber nicht zum Hauptgebäude, sondern zu dem auf der Nordseite, wo Vorräte aufbewahrt wurden.
Vorsichtig öffnete sie dort eine Tür und holte im dunklen Lagerraum ihren Kaltlampen-Kristall hervor. Sie rieb ihn kurz am Mantel. Daraufhin kam ein schwaches Glühen von dem Kristall, nicht mehr Licht als das einer kleinen Kerze. Fässer, Kisten und Säcke standen an den Wänden. Wynn wandte sich nach rechts, passierte zusammen mit Schatten eine weitere Tür und erreichte die Speisekammer hinter der Tür.
Dort warteten aufeinandergestapelte leere Kisten und Flaschen darauf, fortgebracht zu werden. Und an der einen Wand hingen Mäntel, für jene bestimmt, die Milchflaschen oder Abfälle nach draußen bringen mussten. Wynn nahm den größten und zog ihn über ihren eigenen. Natürlich war er zu groß für sie, aber auf diese Weise ließ er sich am einfachsten tragen, und außerdem diente er ihr als Tarnung. Wieder auf dem Hof überlegte sie, wie sie Schatten durch die Bibliothek schleusen sollte, und plötzlich fiel ihr etwas ein.
Pawl a’Seatt war gekommen, um seine Schreiber, die den ganzen Tag in der Gilde gearbeitet hatten, nach Hause zu begleiten. Waren sie bereits aufgebrochen, oder befanden sie sich noch auf dem Gildengelände? Was Wynn vorhatte, war riskant. Sie hoffte, dass die Wächter beim Fallgatter sie nicht kannten.
Sie steckte den Kristall ein und ging vor Schatten in die Hocke.
Wie sollte sie der Majay-hì mithilfe von Erinnerungsbildern erklären, dass sie leise sein musste? Sie streckte die Hand nach ihrer Schnauze aus, ganz vorsichtig, um nicht gebissen zu werden, und schloss die Finger darum. Mit der anderen Hand wiederholte sie die Geste an ihrem Mund.
Schatten grollte leise und gab dann keinen Ton mehr von sich. Wynn konnte nur hoffen, dass sie verstanden hatte.
Gefolgt von Schatten ging sie durch den Wachhaustunnel. Bevor sie dem Fallgatter nahe genug kam, um es zu berühren, bewegte sich jemand dahinter.
Im Licht der draußen brennenden Fackeln erschien ein bärtiges Gesicht zwischen den Gitterstäben. Der Mann trug den roten Wappenrock von Rodians Wächtern und hielt den Schaft einer Lanze in der einen Hand.
»Wer ist da?«, fragte er. »Nach Einbruch der Dunkelheit darf niemand das Gelände der Gilde verlassen.«
»Sehe ich wie eine Weise aus?«, erwiderte Wynn empört. »Ich gehöre zu Meister a’Seatts Angestellten vom ›Aufrechten Federkiel‹.«
Der Mann drehte den Kopf, und dadurch verschwand sein Gesicht in der Dunkelheit.
»Er ist bereits gegangen«, erklang eine andere Stimme.
Der erste Wächter sah wieder durchs Fallgatter. »Wo bist du gewesen?«
»Domin Hochturm hat sich über einige verlegte Notizen aufgeregt«, sagte Wynn und seufzte schwer. »Ich musste sie für ihn suchen.«
Der bärtige Mann runzelte die Stirn, wirkte aber mehr verärgert als argwöhnisch.
»Öffne das verdammte Tor!«, sagte Wynn scharf.
Der Mann sah sie groß an. »Mädchen, du solltest besser … «
»Komm schon!«, unterbrach Wynn ihn. »Ich bin müde, ich habe noch nicht zu Abend gegessen und ich hatte es den ganzen Tag mit langweiligen, kleinkarierten Gelehrten zu tun. Oder möchtest du meinem Arbeitgeber – und deinem Hauptmann – erklären, warum ich die ganze Nacht hier verbringen musste?«
Der Wächter brummte und verschwand um die Ecke des Torhauses.
In Wynns Magengrube krampfte sich etwas zusammen, als sie befürchtete, dass der Mann sie einfach ignorierte. In dem Fall saß sie fest.
»Hoch damit!«, rief jemand.
Ketten rasselten, und Zahnräder bewegte sich mit einem dumpfen Knirschen. Wynn widerstand der Versuchung, sich unter dem
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