Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
aufhalten, aber ihm fiel kein Grund dafür ein, und auch keine Frage, die er an ihn richten konnte. Hätte er eine ehrliche Antwort erhalten? Wohl kaum. Hier war die Wahrheit ebenso schwer zu greifen wie die schwarze Gestalt, die Gildenmitglieder ermordet hatte, um sich in den Besitz der Folianten zu bringen.
»Das reicht für heute«, sagte Bitworth. »Hinaus, ihr alle. Nikolas braucht Ruhe.«
Hochturm nickte zustimmend und deutete zur Tür. Rodian schüttelte verärgert den Kopf und trat in den Flur. Es gab noch eine andere Sache, die ihn zur Gilde geführt hatte.
Inzwischen musste Wynn die übersetzten Texte gesehen haben.
»Begleitet mich«, sagte er, als sie ebenfalls das Zimmer verließ, und sein Tonfall deutete darauf hin, dass er keine Bitte an sie richtete.
»Sie hat noch nicht zu Abend gegessen«, wandte Hochturm ein.
Rodian ließ sich von falscher Besorgnis nicht täuschen. Der Domin wollte ihn einfach nur daran hindern, mit Wynn zu reden.
»Ich kehre sofort zurück«, sagte Wynn und sah dann durch die Tür zu Bitworth. »Danke dafür, dass du dich um Nikolas kümmerst.«
Hinter ihr trat der Wolf in den Flur und schnaubte kurz, als er an Hochturm vorbeikam. Der Zwerg hob die Augenbrauen, brummte etwas Unverständliches und stapfte fort. Rodian setzte sich in Bewegung.
»Wie seid Ihr an das Tier gekommen?«
Wynn ging an seiner Seite. »Sie hat mich gefunden«, erwiderte sie, als sei das Antwort genug.
Bestimmt steckte noch mehr dahinter, aber derzeit galt Rodians Aufmerksamkeit anderen Dingen. Die junge Frau wirkte müde und hatte Tintenflecken am rechten Zeigefinger und dem Daumen. Machten diese Weisen denn nichts anderes, als immer nur zu lesen und zu schreiben? Kein Wunder, dass sie fehlgeleitet waren.
Nein, das war nicht fair, denn Rodian wusste, was Wynn den ganzen Tag gemacht hatte. Immerhin hatte er ihr dabei geholfen, Zugang zu den übersetzten Texten zu erhalten, und dafür erwartete er eine Gegenleistung.
Rodians Blick glitt zu dem Wolf. Wie hatte Wynn ihn noch genannt?
Er war größer als die Wölfe, die er während seines Dienstes im Osten gesehen hatte. Tief im Winter waren dort manchmal Wolfsrudel über das Vieh hergefallen, doch dieses Tier …
Es reichte Wynn bis zur Hüfte und verbarg sein wildes Wesen hinter einer sonderbar erscheinenden Ruhe. Wie konnten Wynns Obere dieses Tier tolerieren?
Als sie schließlich den Hof erreichten, sah Schneevogel ihn vom Tor und wieherte. Der Wolf blieb stehen und richtete die Ohren auf, und Rodian behielt ihn wachsam im Auge, dazu bereit, das Tier mit dem Schwert zu erschlagen, sollte es seine Stute angreifen. Doch es blieb an Wynns Seite.
»Was habt Ihr heute herausgefunden?« fragte er. »Irgendetwas, das helfen könnte?«
Wynn stand einfach nur da und blickte über den Hof zu Schneevogel. Rodian konnte seinen Ärger nicht länger zurückhalten.
»Jemand will etwas und ist ganz offensichtlich bereit, dafür zu töten.« Er schrie fast. »Und Ihr habt die schwarze Gestalt bei a’Seatts Laden gesehen. Wer immer es auch ist, er wusste über die Lieferung der Folianten Bescheid und kann die Schrift eurer Weisen lesen. Wie viele Personen kommen dafür infrage, Wynn? Nicht sehr viele, denke ich.«
»Ihr sucht keinen Lebenden!«, erwiderte Wynn scharf. »Und mit gewöhnlichen Mitteln könnt Ihr ihm nicht das Handwerk legen. Wenn Ihr die Bürger der Stadt und die Weisen der Gilde wirklich schützen wollt, solltet Ihr damit beginnen, alles mit anderen Augen zu sehen, und zwar sofort.«
Rodian musterte sie erstaunt. So aufgebracht hatte er Wynn noch nicht erlebt. Sie atmete tief durch und beruhigte sich ein wenig.
»Sprecht noch einmal mit Nikolas«, sagte sie. »Wenn er wieder richtig bei sich ist. Sprecht mit il’Sänke – er weiß von Dingen, die Euch unbekannt sind. Sprecht mit mir … wenn Ihr wirklich bereit seid, mir zuzuhören.«
Rodian stand sprachlos da. Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht mit einem zornigen Wortschwall, der überhaupt keinen Sinn ergab. Wynn klang jetzt wie einer ihrer Oberen.
»Was steht in jenen Texten?«, fragte er.
Wynn schloss für einen Moment die Augen, als wäre die Antwort etwas, über das sie nicht nachdenken wollte. Plötzlich schien ein schweres Gewicht auf ihr zu lasten.
»Noch mehr Dinge, die Ihr nicht glauben würdet«, flüsterte Wynn. »Erst recht nicht von mir.«
Rodian erstarrte innerlich. Er hatte Wynn für vernünftig gehalten, für seine einzige Verbündete in der Gilde, aber
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