Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
Aufmerksamkeit.
Il’Sänke richtete sich auf. Der Sumaner sah schrecklich aus und wirkte trotz seiner dunklen Haut sehr blass. Im matten Licht der Straßenlampen glänzte Schweiß auf seinem Gesicht.
»Es ist alles in Ordnung, Hauptmann«, brachte il’Sänke hervor. »Es ist vorbei.«
Der Weise hatte Wynn geholfen, nicht der schwarzen Gestalt, aber das spielte jetzt keine Rolle mehr.
Nichts war in Ordnung.
Garrogh war tot, und Rodian wusste nicht, ob Lúcan überlebt hatte. Außerdem musste er irgendwie alles dem Minister für städtische Angelegenheiten und den Königlichen von Malourné erklären.
Vor allem aber musste er sich selbst einiges erklären, und das gefiel ihm nicht.
Wo sollte er beginnen? Was sollte, konnte er sagen?
Etwas stieß mit einem leisen Schnauben gegen seine Schulter. Rodians Blick blieb auf den abgezehrten Sumaner gerichtet, als er nach Schneevogels Halfter griff. Er brauchte etwas, an dem er sich festhalten konnte.
Mit dem Stab in der Hand eilte Wynn zum Fenster des Skriptoriums, stellte sich dort auf die Zehenspitzen und blickte durch die zerbrochenen Fensterläden.
»Chane!«, rief sie.
Im Eingangszimmer des Skriptoriums war es dunkel. Oder vielleicht lag es daran, dass sich ihre Augen noch nicht umgestellt hatten. Was auch immer der Fall sein mochte, sie konnte kaum die Umrisse des Tresens und die offene Tür des Arbeitszimmers sehen.
War Chane rechtzeitig in Deckung gegangen? Oder hatte er erneut schwere Verbrennungen erlitten?
Ein Jaulen veranlasste sie, den Blick zu senken.
Schatten näherte sich und hinkte – sie schien Schmerzen in der linken Schulter zu haben. Wynn ging in die Hocke. Die junge Majay-hì hatte sich tapfer geschlagen und kam offenbar ganz nach ihrem Vater Chap.
»Hier«, krächzte es in der Dunkelheit.
Wynn erkannte Chanes Stimme und lief zur Eingangstür des Skriptoriums. Sie war nicht verschlossen, und als Wynn eintrat, taumelte Chane zum Tresen und ließ sich daran zu Boden sinken.
Wynn eilte zu ihm. Durch die offene Tür kam nur ein wenig Licht von der Straße, und sie konnte Chanes Gesicht nicht deutlich erkennen.
»Bist du verletzt?«, fragte sie. »Hast du neue Verbrennungen erlitten?«
Chane stöhnte, als er die Kapuze des Mantels zurückstrich. »Nein, ich bin nicht verbrannt.«
Die früheren Brandwunden in seinem Gesicht waren fast geheilt, aber es schien ihm alles andere als gut zu gehen. So schwach hatte Wynn ihn nie zuvor gesehen.
»Der Wrait?«, fragte er.
»Verschwunden. Domin il’Sänke hat ihn irgendwie festgehalten. Er brach auseinander und löste sich auf. Als ich das Licht des Kristalls löschte, war nichts mehr von ihm übrig.«
Chane nickte mühsam.
»Der Gilde droht keine Gefahr mehr«, fügte Wynn hinzu. »Und die Texte sind in Sicherheit.«
Chane schwieg.
Wynn vermutete, dass seine Schmerzen nichts mit Verletzungen zu tun hatten. Die Hand mit dem Ring lag flach auf dem Boden, nur wenige Zentimeter von ihrer entfernt, doch sie griff nicht danach.
Was sollte jetzt aus Chane werden?
Er wäre gern ein Gelehrter gewesen, aber in Wirklichkeit war er ein Mörder, ein Ungeheuer. Gleichzeitig zählte er zu den wenigen Personen, denen Wynn traute.
»Ich habe nachgedacht, Chane. Über das Gedicht auf der Schriftrolle, auch über … «
»Reisende Hygeorht … «
Wynn hob den Kopf, als die dumpfe Stimme eines Mannes hinter dem Tresen erklang.
»Weg von ihm !«, fügte die Stimme im Befehlston hinzu.
Wynn richtete sich verwirrt auf, und Schatten begann zu knurren.
Jemand stand in der offenen Tür des Arbeitszimmers.
Ein großes, rundes Objekt ruhte auf dem Kopf des Fremden und schien dunkler zu sein als der Rest des Skriptoriums. Schwarzer Stoff umhüllte die Gestalt.
»Nein!«, hauchte Wynn und richtete den Stab mit dem Kristall auf den Fremden. »Du … du bist verschwunden! Das Licht hat dich verbrannt!«
Die dunkle Gestalt trat vor. Schwere Stiefel pochten über den Holzboden. Etwas Licht von der Straße fiel auf den Kopf der Gestalt, als diese den Tresen erreichte. Meister Pawl a’Seatt musterte Wynn, und das runde Objekt auf seinem Kopf war ein Hut mit breiter Krempe.
Schatten knurrte lauter, und ein Jaulen mischte sich in ihr Knurren, wie der Beginn eines Heulens. Ein ähnliches Geräusch hatte Wynn im Hospiz während ihres Besuch bei Nikolas gehört, als Pawl a’Seatt mit Imaret erschienen war.
Der Meisterschreiber griff mit der linken Hand nach dem Rand des Tresens. Das Holz knarrte unter seinen
Weitere Kostenlose Bücher