Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
Tisch und hob vorsichtig die Schriftrolle.
Nie zuvor hatte er diesen anderen Geruch bemerkt, unter dem der Flüssigkeit, mit der er das alte Leder behandelt hatte. Vielleicht hatte die Mixtur den anderen Geruch überhaupt erst freigesetzt, als sie in das alte Leder eingedrungen war. Mit seinen geschärften Sinnen hob Chane die Rolle und schnupperte mehrmals an dem Schwarzen darauf.
Es roch irgendwie vertraut und weckte vage Erinnerungen.
In jenem abgelegenen Kloster in den Bergen, bei den Heiler-Mönchen, die sich »Diener des Erbarmens« genannt hatten, war es zu einem Kampf zwischen ihm und Welstiel gekommen, und er hatte seinem Reisegefährten ins Bein gebissen. Schwarze Flüssigkeit war aus der Wunde gekommen und hatte in Chanes Mund wie ranziges Leinöl geschmeckt. Er hatte die Flüssigkeit auch gerochen …
Es war der gleiche Geruch wie der der dunklen Substanz auf der Schriftrolle.
Chane dachte an die alten, wirren Schriftzeichen an den eisigen Wänden der Burg auf dem Hochplateau, geschrieben mit dem Blut einer Untoten. Auch dort hatte es diesen Geruch gegeben, ganz schwach, kaum wahrnehmbar.
Chanes Hände zitterten plötzlich, und dieses Zittern übertrug sich auf die Schriftrolle. Er erkannte den Geruch.
Ein Edler Toter hatte auf das Leder geschrieben, mit seinem eigenen schwarzen Blut. Und anschließend hatte er das Geschriebene unter Tinte verborgen. Aber warum?
Wie konnte Chane feststellen, was unter der Tinte geschrieben stand?
Er sah keine Möglichkeit, die Tinte zu entfernen, ohne die Schriftzeichen darunter zu beeinträchtigen, und deshalb setzte er die Behandlung mit der Mixtur bis zur siebenundzwanzigsten Nacht fort, woraufhin das alte Leder glatt vor ihm lag.
Er war nie zuvor allein gewesen. Oder vielleicht hatte er sich nie zuvor einsam gefühlt. Der Inhalt der Schriftrolle blieb ihm so verwehrt wie Wynns Welt, und das weckte neue Erinnerungen an die junge Weise.
Chane verbrachte mehrere Nächte in der Nähe der alten Kaserne und wünschte sich nichts mehr, als Wynn nur einmal zu sehen. Er wusste noch immer nicht, ob er sie wiedersehen sollte, oder konnte. Aber sie zeigte sich nie. Mehrmals sah er Domin Tilswith, doch dem alten Meister von Wynn durfte er sich nicht zeigen – Tilswith wusste, was er war. Schließlich, eines Abends, ertrug er die Ungewissheit nicht länger.
Eine junge Frau in einem grauen Umhang, der ihn an Wynns Kutte erinnerte, kam mit leeren Milchflaschen aus der alten Kaserne, und Chane trat aus den Schatten.
Er sprach nicht oft, weil er den Klang seiner Stimme verabscheute. Während der Verfolgung von Magieres Gruppe war er im Wald von Apudâlsat geköpft worden. Welstiel hatte ihn mit seinem arkanen Geschick ins untote Leben zurückgeholt, doch seine Stimme war nie wieder so geworden wie vorher.
In seinem guten Mantel und mit den geputzten Stiefeln sah er wieder wie ein feiner Herr aus. Dennoch hätte die junge Frau vor Schreck fast die Flaschen fallen gelassen.
»Ich suche eine alte Bekannte«, krächzte Chane. »Weißt du, wo ich Wynn Hygeorht finden könnte?«
Die junge Frau runzelte die Stirn, als sie die seltsame Stimme hörte, doch dann glaubte sie zu verstehen und lächelte sogar. Chane war sich durchaus bewusst, wie seine hochgewachsene Gestalt und sein attraktives Gesicht auf gewisse Frauen wirkten. Diese junge Dame sprach Belaskisch mit einem numanischen Akzent.
»Die Reisende Hygeorht? Es tut mir leid, aber sie ist nicht mehr bei uns. Als sie mit alten Texten von einer fernen Burg zurückkehrte, gab Domin Tilswith ihr den Auftrag, die Unterlagen zur zentralen Niederlassung der Gilde in Malourné zu bringen. Sie hat sich schon vor Wochen dorthin auf den Weg gemacht.«
Chane wich zurück.
Die junge Frau musterte ihn mit neuem Interesse, vielleicht sogar mit Mitgefühl.
»Ihr könntet der Reisenden schreiben«, schlug sie vor. »Obwohl es eine Weile dauert, bis ein Brief Calm Seatt erreicht. Bei jedem Neumond schicken wir unsere Korrespondenz übers Meer. Ich könnte ihr einen Brief von Euch hinzufügen.«
Chane nickte und wich noch weiter zurück, als würde der Boden unter ihm schwanken.
»Ja … danke. Ich denke darüber nach.«
Wynn war fort, über den großen Ozean in ihre Heimat zurückgekehrt, in eine andere Welt.
Wie betäubt wankte Chane durch die nächtlichen Straßen von Bela, ohne darauf zu achten, wohin er ging. Schließlich fand er sich im Hafen wieder, bei den Kais und Lagerhäusern. Er blickte über die Bucht, über das dunkle
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