Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
Gegenstand, den er aus der eisigen Festung mitgenommen hatte.
Wenn er ihn in der Hand hielt, bedauerte er jedes Mal, nicht Wynn mitgenommen zu haben.
Er legte den Blechzylinder beiseite und lenkte sich mit anderen Dingen ab.
Welstiels Habe und seine Bücher verwunderten ihn, denn jener arrogante Untote war mehr gewesen als nur ein Edler Toter: ein geschickter Beschwörer, in vielerlei Hinsicht besser als Chane. Er hatte arkane Praktiken bevorzugt, im Gegensatz zu Chanes Ritualen und Zaubern. Welstiels Tagebücher waren größtenteils in Numanisch geschrieben, Wynns Muttersprache, und daher schwer zu lesen. Chane konnte einigermaßen Numanisch sprechen, was er Welstiels Unterricht verdankte, aber mit der Schriftsprache hatte er große Schwierigkeiten.
Welstiels arkane Objekte – vom stählernen Reif, der Hitze herbeirufen konnte, über die Metallstäbe und den Leben spendenden Becher bis hin zu einem sonderbaren Kasten mit Ampullen – waren ebenso rätselhaft wie seine beiden arkanen Texte: zwei handgeschriebene Bücher, gefüllt mit esoterischen Symbolen und Zeichen, die Welstiel selbst erfunden zu haben schien.
Das war typisch für Magier, welche Art von Magie auch immer sie praktizierten. Die Entschlüsselung der Symbole eines anderen Magiers, die einem besonderen Verständnis der Magie entsprangen, konnte sehr lange dauern, falls sie überhaupt möglich war. Es gab genug, mit dem sich Chane beschäftigen konnte, aber nach nur wenigen Monden ertappte er sich dabei, wie er erneut den Schriftrollenzylinder in Händen hielt.
Er repräsentierte seine einzige noch existierende Verbindung zu Wynn. Eine, die er nicht einfach beiseiteschieben konnte.
Er erinnerte sich daran, wie er den Zylinder zum ersten Mal geöffnet und darin eine Rolle aus sprödem, brüchigem Leder gefunden hatte. Es war erstaunlich hell und so empfindlich, dass er die Rolle nicht herausziehen konnte, ohne zu riskieren, sie dabei zu beschädigen.
Für Chane gab es noch viel zu tun, bevor er einen Blick auf die Rolle werfen konnte.
Die Abende verbrachte er damit, Bela nach Einbruch der Dunkelheit zu durchstreifen, bevor die Läden schlossen. Er musste herausfinden, wie man durch Alter hart gewordenes Leder wieder weich und flexibel machen konnte, ohne das zu ruinieren, was darauf geschrieben stand. Er sprach mit Lederarbeitern unter dem Vorwand, ein altes Wams aufzufrischen, und erfuhr dabei, wie man Leinöl und weißen Essig mischte. Anschließend besuchte er Schreiber und andere Leute, die mit Tinte vertraut waren, und fragte sie, ob eine solche Mischung Einfluss auf Schrift haben konnte. Eines Abends in seinem Zimmer nahm Chane einen Kamelhaarpinsel und trug die Mixtur zum ersten Mal auf.
Die Ecke der alten Rolle wurde plötzlich dunkel.
Chane erstarrte und fürchtete, das uralte Relikt beschädigt zu haben. Aber als die Mischung trocknete, gewann das Leder seine helle Tönung zurück. Trotzdem beschloss Chane, sehr vorsichtig zu sein.
Er trug die Flüssigkeit nur einmal am Tag auf, kurz vor dem Morgen, und verwahrte die Rolle in einer dunklen Ecke. Jeden Abend, wenn er aus dem Dämmerzustand erwachte, prüfte er die Flexibilität der Schriftrolle. Siebenundzwanzig Nächte vergingen, bis die Rolle schließlich geglättet war, aber schon in der siebzehnten Nacht konnte er sich ihren Inhalt ansehen, beziehungsweise den fehlenden Inhalt.
Das obere Ende der Rolle wart fast ganz schwarz, wie vor Jahrhunderten in Tinte getaucht.
Erstaunt und enttäuscht ließ Chane die Schultern hängen, und fast hätte er die Rolle genommen und in den Kamin geworfen. Stattdessen öffnete er das Fenster des kleinen Raums, weil er den Geruch der Flüssigkeit plötzlich nicht mehr ertragen konnte, und ging hinaus in die Nacht.
Als er vor dem Morgengrauen zurückkehrte, mit neuer Kraft vom Blut eines weiteren Opfers, machte er sich nicht die Mühe, die Geschmeidigkeit der Rolle zu prüfen. Er schloss das Fenster, hängte eine von Motten zerfressene Decke davor, um das Licht der bald aufgehenden Sonne fernzuhalten, und streckte sich auf der Strohmatratze aus.
Ein schwacher Geruch stieg ihm in die Nase. Nicht von Essig oder Leinöl, sondern von etwas anderem.
Chane setzte sich auf.
Frisches Leben erfüllte ihn, und deshalb reagierte seine Haut mit einem leichten Prickeln auf den nahen Sonnenaufgang. Er hörte, wie unten im Wirtshaus jemand ein Holzscheit in den Kamin legte. Langsam holte er durch die Nase Luft.
Dann stand er auf, ging zum Schemel vor dem
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