Dhana - Im Reich der Götter
Wahrnehmungsvermögen.
»Göttin, steh uns bei«, sagte Numair und blieb stehen.
Sie befanden sich in einer dunklen Senke, in die kaum ein Lichtstrahl fiel.
Die Ursache des frühen Zwielichts wuchs neben dem Weg: eine Eiche, oder was
Dhana für eine Eiche hielt, denn dies war die größte Eiche, die sie jemals
gesehen hatte. Selbst mit ausgebreiteten Armen hätten sie und Numair noch
immer nicht den ganzen Stamm umfassen können.
»Sie ist ein Erstbaum«, erklärte Breitfuß. »Aus ihren
Eicheln wurden die ersten Eichen für die Reiche der Sterblichen geboren.«
»Sie?«, fragte Numair und blickte hinunter auf seinen
Mitreisenden.
»Sie ist ein Gott«, erklärte der Entenmaulwurf. »Sie
besitzt ein Bewusstsein wie alle Erstbäume.«
Dhana nahm sofort ihre Hand vom Baumstamm.
Numair trat zurück, wobei er Breitfuß vorsichtshalber
aus der Tasche nahm, verneigte sich tief, als sei der Baum eine Königin, und
führte die dazugehörige Armbewegung aus. Stirnrunzelnd richtete er sich wieder
auf. »Was ist das für ein Geräusch?«
»Welches Geräusch?«, fragten Dhana und Breitfuß im
Chor.
Numair trat näher zu Dhana, eine Hand ans Ohr gelegt,
und beugte sich zu ihr hinunter. »Pass bloß auf, dass du mich nicht einquetschst«,
warnte der Entenmaulwurf. Numair legte sein Ohr an Dhanas Packsack. Inzwischen
hörte auch Dhana ein dünnes, hohes Schrillen.
Numair öffnete eine der Seitentaschen des Sacks und
griff hinein. Als er seine Hand wieder herauszog, förderte er einen Finsterling
zu Tage.
»Wo kommst du denn her?«, fragte er und hielt ihn in
Augenhöhe.
»Ist es der, der mich seit der Geschichte mit Pa
verfolgt?«, erkundigte sich Dhana.
Der Finsterling formte aus sich heraus einen Kopf und
nickte.
»Bist du aus Versehen in meinen Rucksack geraten?«
Das Wesen schüttelte den Kopf.
»Du wolltest also mitkommen?«
Der Finsterling nickte.
Dhana zuckte mit den Schultern und hielt die
Brusttasche ihres Hemdes auf. »Lass ihn da reinfallen.« Numair zögerte, dann
steckte er das Wesen in seine neue Bleibe. »Nun haben wir jeder einen
Mitreisenden.« Sie lächelte Numair an. Für einen flüchtigen Moment veränderten
sich seine Augen: Ein seltsamer Ausdruck lag darin.
Abrupt richtete Numair sich auf. »Wir sollten nicht
herumtrödeln«, sagte er und lief eilig weiter. »Wir müssen noch eine ziemliche
Strecke hinter uns bringen.«
Dhana hatte das Gefühl soeben etwas Wichtiges gesehen
zu haben, doch sie hätte nicht sagen können, was es war. Seufzend setzte sie
sich in Bewegung und bemühte sich die anderen einzuholen.
Sie gingen noch lange nach Einbruch der Dunkelheit
weiter und machten nur eine Pause, um eine Kleinigkeit zu essen. Als die Nacht
hereinbrach, rief Numair Licht aus dem Kristall an der Spitze seines Stabes, um
den Weg zu erhellen. Endlich führte der Weg aus dem Wald heraus. Sie waren am
Ufer eines großen Teiches oder eines Sees angekommen.
»Der See der Versuchung?«, fragte Numair und blickte
über das Wasser.
»Ja, tatsächlich«, sagte Breitfuß. »Und ich könnte
jetzt ein Bad gebrauchen.«
Dhana seufzte vor Erleichterung und ließ ihren Bogen,
den Köcher und den Packsack zu Boden gleiten. Das dichte, weiche Gras, das fast
bis zum Ufer wuchs, sah in diesem Moment besser aus als das weichste Federbett.
Numair hob den Entenmaulwurf aus seiner Hemdtasche,
setzte ihn zu Boden und legte erst dann seinen eigenen Packsack ab. »Breitfuß,
wenn ich unsere Lager zum Schutz mit einem Zauber umgebe, würde dich das
stören?«
Breitfuß klapperte lachend mit seinem Schnabel. »Nein,
nicht im Mindesten. Allerdings ist es gar nicht nötig, das Lager mit einem
Zauber zu schützen, der See der Versuchung ist heilig. Niemand aus den
Göttlichen Reichen würde jemandem etwas tun, außer er ist mehr als fünf
Kilometer entfernt. Sollte irgendetwas passieren«, fügte er hinzu und sah die
beiden ernst an, »so ruft oder denkt einfach meinen Namen und ich werde kommen.
Und vergesst nicht - trinkt nicht von dem Wasser!« Er verschwand in einer Wolke
aus silbernem Licht.
Numair gab Dhana seinen Packsack. Sie zog die
zusammengefalteten Tücher heraus, die ihre Mutter »Decken« genannt hatte, und
breitete sie aus. In diesen Tüchern steckte mehr, als Dhana erwartet hatte. Flach
auf dem Boden ausgebreitet, waren die Decken groß genug, um jeden von ihnen
vollständig einzuhüllen.
Erschöpft streifte Dhana ihre Stiefel ab und legte
ihren Dolch und den Gürtel beiseite, dann holte sie den
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