Diabolos (German Edition)
Photographien ein Bild dieser Frau gestalten, denn seltsamerweise schienen keinerlei Lichtbilder zu existieren, die meine Mutter abbildeten. So war ich stets auf die Erzählungen meines Vaters angewiesen, welche dieser allerdings in kargen Worten gefasst hielt und nur von sich gab, wenn ich ihn direkt darauf ansprach. Manchmal erschien es mir, als meide mein Vater das Thema, und so hatte ich es bald bleiben lassen, mehr über meine Mutter herauszufinden.
Aber wie es mit vielem im Leben ist; was man nie kennengelernt hat, das kann man auch schwerlich vermissen. Und selbst jetzt, viele Jahre nach dieser Zeit, als ich nach Arc´s Hill zurückkehrte, um den letzten Willen meines Vaters zu erfüllen, wusste ich so gut wie nichts über die Frau, die mich vor vierzig Jahren zur Welt gebracht hatte.
Ich konnte mich noch aus meiner Kindheit daran erinnern, wie wortkarg und einsiedlerisch die Menschen in dem Ort waren. So steuerte ich meinen Wagen auf direktem Wege über die mit Kopfsteinpflaster versehene, unebene Hauptstraße, vorbei an kleinen, düster wirkenden Geschäften und Häusern, deren Holzläden zum größten Teil trotz des hellen Tages geschlossen gehalten wurden, die sanfte Steigung hinauf zum Hügel, auf dem das Haus meines Großvaters stand. Die Erinnerung an den niedrigen Bau aus ehemals roten Klinkersteinen überwältigte mich mit scheußlicher Brutalität und raubte mir den Atem, noch ehe ich den Motor meines Wagens abgestellt hatte und die Stille dieser unheimlichen Ortschaft mich mit einem erdrückenden und finsteren Gruß willkommen hieß.
Einige Minuten saß ich steif hinter dem Lenkrad und ließ meinen Blick über das verlassene, sich in die Schatten der nahen Berge kauernde Haus gleiten, das mir so viele schlaflose Nächte bereitet hatte.
Der Garten war verwildert und der alte Holzzaun, den mein Vater in meinem ersten Sommer hier mit weißer Farbe versehen hatte, bestand nur noch aus einigen von Moder und Zersetzung schwarz gefärbten Latten und windschiefen Pfosten, die wie die faulen Schärfen eines urzeitlichen Ungeheuers aus der harten Erde ragten.
Die Weiden und Birken, die das Haus in den frühen Jahren unbekümmerter Kindheit flankiert hatten, waren verschwunden und statt ihrer ragten verfallene Stümpfe der einst stolz in den Sommerwinden schwankenden Bäume aus gelbem und braunem Dorngebüsch und trockenem Gras empor. Es erschien mir, als versinke mit den Trümmern der alten Bäume auch der letzte Rest meiner Kindheit unter dem Zerfall der Zeit. Zurück blieb lediglich eine schweigende und erdrückende Ewigkeit.
Selbst das Haus schien unter der Last von Ranken und wildem Efeu zu versinken. Das Gemäuer verrottete unter Unkraut und wild wucherndem Gestrüpp zu einer schwarzen, formlosen Masse. Die Fensterläden waren geschlossen und machten auf mich den Eindruck, als seien sie seit ungezählten Jahren nicht mehr geöffnet worden. Das Dach aus grauen, von Moos und Flechten befallenen Schindeln hing in der Mitte der Behausung, dort, wo sich die große Küche befand, durch und schien sich dem unaufhörlichen Zerfall zu beugen. Alles in allem machte das Haus von Henry Wilkes den erbärmlichen Eindruck einer vergessenen Behausung, die vor Jahren aufgegeben und dem Niedergang dargeboten worden war. Und doch hatte mein Vater bis zu seinem Tode vor drei Monaten in dieser Hütte gelebt.
Die Vorstellung menschlichen Lebens vor nicht einmal neunzig Tagen war schwer nachvollziehbar, angesichts der Verrottung, die sich meinen Blicken darbot. Ebenso der Gedanke, dass ausgerechnet mein Vater, ein Mann, zu dem ich Zeit meines Lebens aufblickte, seine letzten Lebensjahre in dieser Behausung und an diesem gotteslästerlichen Ort unter nahezu primitiven Umständen verbracht hatte. Mein Vater hatte sich stets, trotz der jährlichen Besuche im Sommer, vom Lebensstil und dem Charakter meines Großvaters distanziert und beständig versucht, mir meine Ängste zu nehmen, die ich zwar nie offen zur Schau stellte, um die Gefühle des Mannes nicht zu verletzen, die dieser aber dennoch aufspürte und zu vertreiben suchte.
Nie hatte ich in jungen Jahren die Lebensweise meines Vaters mit der des Großvaters gleichgesetzt, fühlte ich mich doch durch die gleichgesinnte Abneigung gegen Henry Wilkes, auch wenn diese mein Vater nie in klaren Worten formuliert hätte, zu ihm in einer besonderen Art hingezogen. Man konnte durchaus sagen, dass uns mein Großvater auf eine bizarre, von diesem mit Sicherheit nie beabsichtigte
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