Diabolos (German Edition)
Klagen, unfähig, sich auch nur auf eine andere Sache zu konzentrieren.
Worüber SIE sang, dass wusste er nicht, denn es schien ihm keine wirkliche Sprache zu sein. Vielmehr war es die Sprache der Gefühle, die man nur im Unterbewusstsein intuitiv verstand, aber niemals auch nur ansatzweise in Worte fassen konnte. Es gab einfach keine Worte dafür oder es waren die ursprünglichsten Worte überhaupt, an die man sich nur wie aus Träumen erinnerte.
Auch wenn er die Worte nicht verstand, so verstand er doch ihr unglaubliches, unendliches Leid, was SIE mit IHREM Gesang nur zu ihm – so erschien es ihm jedenfalls – transportierte, als würde SIE nur für ihn singen.
Und plötzlich war alles vorbei. Crane wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Er nahm nur wahr, dass SIE nicht mehr sang und die Menschen um ihn herum alle standen und frenetisch klatschten, nicht mehr damit aufhörten. Überall konnte er tränenüberströmte Gesichter sehen, die alle nur auf SIE gerichtet waren, wie in Trance, wie unter einem Bann.
SIE verbeugte sich, ebenfalls tränenüberströmt. Dabei bemerkte Crane, dass SIE immer wieder zur Loge des Bischofs hinaufblickte und der Bischof blickte auf SIE hinab.
Jetzt endlich war Crane wieder vollkommen klar. Er wusste wieder, warum er hier war und er wusste, was er zu tun hatte.
»Glaubst du mir jetzt?«, hörte er Gordon fragen, der ihn ernst musterte.
»Ja«, war Cranes kurze Antwort. Es war Zeit, zu handeln.
Langsam, aber stetig bewegte er sich durch die Menschenmasse hindurch, die noch immer begeistert klatschte. Er kannte von Gordon den genauen Ablauf der folgenden, sich immer wiederholenden Ereignisse. Doch dieses Mal wollte Crane es verhindern, dass SIE auf den Bischof treffen würde. Es würde heute enden.
Crane blickte zum Bischof herauf, der auch stand und klatschte. Nur für einen Moment löste sich dessen Blick von IHR und er sah zu Crane herunter, der ihm mit ernster Miene zunickte, und für einen Augenblick sah Crane in dem Gesicht des Bischofs so etwas wie Panik.
Davon ließ er sich aber nicht beirren, denn er musste zu einem bestimmten Ort kommen, um SIE abzufangen. Dieser Ort befand sich direkt unter der Oper, ein Gewirr aus Gängen, ein Labyrinth, dass durch ›Das Phantom der Oper‹ weltweite Berühmtheit erlangt hatte. Durch einen dieser Gänge, die nicht nur die Oper, sondern ganz Paris unterwanderten, gelangte SIE immer zu dem Treffpunkt mit dem Bischof.
Diese Gänge, so erzählte man sich, waren schon da, als es Paris noch gar nicht gab. Sie sollten zu einem Dämonenhort gehört haben und galten als ein unheiliger Ort, an dem das Böse allein Macht hatte. Für Crane war dies dummer Aberglaube, alte Geschichten, um kleine Kinder zu erschrecken. Aber er wusste auch, dass man in jeder Geschichte etwas Wahrheit finden konnte. Und im Augenblick war er sich nicht ganz sicher, ob vielleicht nicht doch etwas mehr dahintersteckte.
Unbemerkt, da wirklich alle sich nur auf SIE konzentrierten, gelang es Crane, den von Gordon beschriebenen Gang nach unten in die Katakomben zu finden. Einen normalen Menschen hätten wahrlich die uralten, mit merkwürdigen, fast weggewaschenen Symbolen überhäuften Wände abgeschreckt, aber bei Crane weckten sie nur mehr seine Neugierde. Er war hier wirklich an einem Ort, wo Zeit und Raum sich auflösten, der die Jahrhunderte überdauerte, und wahrscheinlich noch existieren würde, wenn über ihm schon längst nichts mehr war.
Crane folgte den Gängen und ließ sich dabei nicht von dem vernehmbaren Flüstern und undeutlich wahrzunehmenden Heulen verunsichern. Solche Orte hatten oft eine eigene Dynamik, wo nicht alles Unheimliche gleichzeitig auch eine unnatürliche Ursache hatte. Er dachte sich bei so etwas immer nur: Vielleicht hatte jemand ein Fenster offen gelassen.
Links und rechts auf dem Boden lagen manchmal kleine Kruzifixe, als hätte jemand vergeblich versucht, sie hier anzubringen. Vielleicht stimmten die alten Geschichten ja doch, denn so vertrauenserweckend war dieser Ort auch nicht. Außerdem hatte Crane das Gefühl, dass er verfolgt würde und sein Gefühl hatte ihn normalerweise noch nie im Stich gelassen. Trotzdem blickte er sich nicht einmal um. Wenn es soweit wäre, dass etwas ihn wirklich angreifen sollte, wäre er schon so weit.
Schließlich erreichte er den Ort, zu dem er wollte. Er befand sich nun direkt unter der Bühne, konnte vernehmlich den noch immer nicht abebbenden Applaus der Massen hören.
Wer war SIE nur?
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