Diabolos (German Edition)
stieg.
»Cherete!«, grüßte der Einheimische erneut. Er machte eine weit ausholende Geste mit dem Arm, wobei er die Höhlen mit einschloss und versuchte dann offenbar, in einer wortreichen, aber unverständlichen Art, die halbe Entstehungsgeschichte Griechenlands zu erläutern.
Heather und Brandon konnten dem dunklen Singsang seiner Stimme nur recht hilflos lauschen. Erst nach einiger Zeit bemerkte der selbsternannte Fremdenführer die nachdenklichen Gesichter seiner Zuhörer. Er stockte, schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und brach dann in ein schallendes, kehliges Lachen aus.
»Singnomi«, prustete er. »Singnomi! Apo pu issaste? Jermania?«
Heather, die den Sinn seiner Frage verstand, schüttelte den Kopf. »Nein, wir kommen aus Amerika. U.S.A.«
»Ooh … Amerika!«, wiederholte ihr Gegenüber fast ehrfürchtig. Er grinste wieder so breit, dass Heather in seinem Mund die fehlenden Schneidezähne erkennen konnte. Sie schätzte das Alter des Mannes auf 40 bis 50. Er war mit knapp 1,65 m etwas kleiner als sie, sein gedrungener Körper wirkte aber dennoch sehr beweglich und muskulös. Seine sonnengebräunte, runzlige Haut wurde am Kinn, am Nasenrücken und oberhalb der rechten Schläfe von weißen Narbenlinien durchzogen. Es sah so aus, als sei er als Kind einmal kopfüber in einen Stacheldrahtzaun gefallen. Vielleicht hatte er aber auch in Zypern gekämpft , dachte Heather. Vom häufigen Lachen hatten sich tiefe Falten um seine Mundwinkel eingegraben. Das stoppelbärtige Gesicht wirkte dadurch zeitweilig wie eine grob geschnitzte Holzmaske.
»Amerika!«, seufzte der Mann erneut. »Ooh, ich kennen. New York, Hollywood, Mac Donald's, John Wayne (er sprach den Namen etwa wie ›Sssonnn Vehn‹ aus), Kim Basinger. MarlboroLand. Große Land. Schöne Land.«
Angesichts der kunterbunten Aufzählung warf Brandon seiner Frau einen verblüfft amüsierten Blick zu. Selbst im tiefsten Kreta kannte man die “bedeutendsten Ikonen“, auf denen Amerika errichtet worden war.
»Aber Griechenland auch schöne Land, okay? Viel Geschichte.«
Brandon nickte zustimmend; er war sich sicher, dass dieser vermeintliche Hirte seine holprige Rede auch in drei oder vier anderen Sprachen halten konnte. Mit seiner Hacke zeigte der Sprecher nun wieder auf die steinerne Kathedrale vor ihm. »Die … diese …«, begann er zögernd.
»Höhlen«, half ihm Heather weiter.
Sein Gesicht hellte sich augenblicklich auf. »Höhlen«, bestätigte er. »Oh, yes, yes, yes. Höhlen. Sind viel alt, okay? Viel' tausend Jahr. Ist Ort von Große Göttin.«
»Göttin?«, fragte Heather zweifelnd. »Waren hier nicht Gräber, ein Platz für die Toten?«
Es gelang dem Mann, gleichzeitig seinen Kopf zu schütteln und zu nicken.
»Tote Krieger, yes, yes, yes. Aber viel spät. Große Göttin schon hier viel früh.«
»Soll das heißen, dass dies schon ein heiliger Ort war, bevor die Toten hier beerdigt wurden?«, mischte sich nun auch Brandon ein.
»Yes, yes, yes«, grinste der Mann. »Vorher. Viel vorher. Immer. Wollen sehen?«
Brandon schwankte zwischen Neugier und Skepsis. »Was sehen? Wir haben uns die Höhlen doch bereits angeschaut. Nichts Interessantes mehr da. Wahrscheinlich wurde alles in die Museen getragen.«
Der Hirte hielt seine Hacke nun wie eine glänzende Hellebarde; erstmals erschien auf seinem Gesicht so etwas wie ein spitzbübisches Lächeln. »Nicht alles Museum«, antwortete er. »Große Höhle von Göttin noch da. Wollen sehen? Nicht weit, okay?« Er zeigte schräg den Hang hinunter in die Richtung, aus der er gekommen war. »Ganz nah! Wollen sehen? Alles wie vor viel tausend Jahr.«
Brandon wechselte einen kurzen Blick mit Heather. »Was meinst du?«, fragte er leise. »Jetzt wissen wir wenigstens, warum uns der Kerl seinen Vortrag gehalten hat. Wahrscheinlich zeigt er uns nur ein weiteres, dunkles Erdloch und will dafür dann auch noch Bakschisch kassieren.«
Heather zog die Mundwinkel nach unten. »Ich weiß nicht. In meinem Führer steht nichts von einer alten Götterhöhle.«
»Allerdings muss dein schlaues Buch auch nicht alles wissen«, gab er zu bedenken. »Vielleicht existieren ja tatsächlich noch einige antike Überreste dieses Kultes. Fresken oder ähnliches. Was riskieren wir schon? Es wäre doch nicht schlecht, wenn du nach dem Urlaub das Buch um ein weiteres Kapitel ergänzen könntest, oder?«
Mehr aus Protest gegen Heathers buchstabengetreue Auslegung ihrer ›Kreta-Bibel‹, als aus eigener
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