Diabolos (German Edition)
September bezogen, als die Spätsommersonne noch dazu eingeladen hatte, sich des Lebens zu freuen: Die Mädchen waren in dem Park vor seiner Haustür auf Inline-Skates gefahren oder hatten sich zum letzten Mal in diesem Jahr im Bikini in der Sonne gesammelt. So alltäglich dies sein mochte, hatten ihr Anblick und die Umgebung auf Carsten von Anfang an einen Eindruck der Falschheit gemacht. Die Jahreszeit, die Menschen, der Straßenverkehr, die Gespräche schienen falsch zu sein. Die Tage nahmen kein Ende, und wenn Carsten vor die Tür trat, prallten von allen Seiten Hitze, Abgase und Licht auf ihn ein. Aus – ihm zunächst – verborgenen Gründen waren seine Augen an diesem Ort krank geworden: Das Sonnenlicht stach schmerzhaft und blendete ihn erbarmungslos, wenn er beispielsweise auf dem Weg zu einer Vorlesung einen Parkplatz überquerte und von den Autoscheiben weiße Blitze in seine Richtung sprangen. Bald hatte es sich so verschlimmert, dass er draußen kaum noch Farben wahrnahm.
An manchen Tagen, an denen er das Haus verließ, bewegte er sich wie durch einen körnigen Schwarz-Weiß-Film. Wenn es Abend wurde, kehrten die Farben blass und ausgewaschen zurück, nur um von der einbrechenden Dunkelheit wieder geschluckt zu werden. Auch die Alpträume (Schrecken, wie er sie seit seiner Kindheit nicht mehr erlebt hatte) begannen ihn bereits in den ersten Nächten zu quälen.
Die gleiche Kraft, die zum Einzug in sein Zimmer notwendig gewesen war, musste er einsetzen, um sich in die Uni zu treiben. Mit dem plakattapezierten Betonblock, in dem sein Fachbereich untergebracht war, verhielt es sich nämlich wie mit seiner Unterkunft und dieser fremden und fremdartigen Stadt: Hier wartete niemand auf ihn. Carsten, 23 Jahre alt und 300 Kilometer von seiner Heimatstadt entfernt, war mit einem Schlag überflüssig geworden. Er hatte sich selbst für den Hochschulwechsel entschieden, sich das Ziel gesetzt, die Fremde zu erobern, war erfahrungshungrig und abenteuerlustig gewesen. Doch nun war alles auf eine verstörende Weise anders als erwartet.
Seit dem ersten Tag in dieser Stadt waren zehn Monate vergangen, und seine Vermutung, dass man ihn aus dem Weg räumen wollte , war zur Gewissheit geworden. Es bestand kein Zweifel mehr, dass es eine Verschwörung gab, die vorhatte, ihn zu töten – oder ihm Schlimmeres anzutun als den Tod. Natürlich beschäftigte er sich auch mit dem ›Warum‹, schließlich war er sich keiner Schuld bewusst. Doch für sein Überleben waren das ›Wer‹ und das ›Wie‹ von größerer Bedeutung.
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Während dieser endlosen zehn Monate hatte Carsten keine Freundschaften geschlossen und nur wenige Kontakte geknüpft. Neben den Jungs, mit denen er sporadisch (immer seltener) Fußball spielte, sah er Tatjana am häufigsten, weil es seit seinem 16. Lebensjahr einfach dazugehörte, eine Freundin zu haben, eine Konstante in seinem Leben, genau wie der Fußball. Das waren die einzigen Kontinuitäten zu seinem vorherigen, ahnungslosen Leben, und beide liefen nicht sonderlich gut. Tatjana verbrachte jede zweite Nacht bei ihm, sie hatten Sex und schauten fern. Die gemeinsamen Nächte verliefen ruhiger als die, die er alleine verbrachte.
Die Beziehung zu seiner vorherigen Freundin war im beiderseitigen Einvernehmen mit seinem Weggang von der heimatlichen Uni zu Ende gegangen. Tatjana hatte er gleich zu Beginn des Wintersemesters kennengelernt. Sie studierte deutsche Philologie und Anglistik auf Lehramt. Sie mochte schwarze Schokolade, Milchkaffee, Doku-Soaps, Reggae, Wintersport und Fußmassagen, und interessierte sich hauptsächlich für Mode, Gymnastik und Körperpflege. Sie war gegen Nazis, Kinderschänder und Menschen, die zu viel verdienten und zu wenig Zeit für ihre Familien übrig hatten; kurz: Sie war vorzeigbar, aber nichts Besonderes. Offenbar fühlte sie sich zu Carsten hingezogen, weil er einerseits so ungesellig und komisch , auf der anderen Seite aber so männlich und aggressiv war. Das wusste er, weil sie sich zugleich beschwichtigend und genießerisch an ihm zu reiben pflegte, wenn er sich über irgendeine Kleinigkeit aufregte. Tatjana hatte eine gute Figur mit breiten Hüften, über die ein Ornament tätowiert war, ein etwas langes Gesicht mit gepiercter Stupsnase und Sommersprossen, schwarzes Haar und leicht überdurchschnittliche Brüste, von denen die linke ein bisschen kleiner und fester war als die rechte.
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Carsten wohnte zur Untermiete im Keller eines Zweifamilienhauses.
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