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Diabolos (German Edition)

Diabolos (German Edition)

Titel: Diabolos (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: torsten scheib , Herbert Blaser
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sagte sie laut vor sich hin. »Immer nur laufen.«
    Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, als sie erstmals die Rufe hörte. Vor allem Janos' Stimme konnte sie deutlich erkennen. Heather blieb stehen und versuchte ergebnislos, die genaue Richtung zu bestimmen, aus der die Männer kamen. Es klang, als ob Hirten ihre Herde zusammentrieben. Beinahe idyllisch. Aber sie wusste es besser. Diese Männer waren auf der Jagd nach einem verlorenen Zicklein. Und sie wollten es schlachten.
    Ganz langsam ging Heather in die Hocke. Sie musste sich klein machen; Zicklein waren klein. Und sie musste laufen. Ganz schnell laufen. Das war ihre einzige Chance. Sie würde laufen und laufen und laufen. Kein Jäger würde sie je fangen. Sie ging auf alle viere und krabbelte behände weiter. Als die Rufe etwas schwächer wurden, stieß sie ein leises, triumphierendes Meckern aus.

Illustration – Astrid Christ

Die Verschwörung

    Dirk Alt

    Das Leid, das Carsten in der Kehle aufgestiegen war, schwappte endlich über seine Lippen. »Ich bin in der Hölle«, meinte er zu Georg. »Ich bin in der Hölle und verliere den Verstand.«
    Sein Zuhörer legte ihm die rechte Hand fest auf die Schulter. »Rede mit mir. Lass es raus«, beschwor Georg ihn.
    In nüchternem Zustand hätte sich Carsten eher die Zunge abgebissen, doch der Alkohol hatte seine Kontrollmechanismen gelähmt, und Georg strahlte eine menschliche Wärme und Offenheit aus, die ihn ermutigte, das selbstauferlegte Schweigegebot zu übertreten.
    Sie kannten einander vom Campus-Fußball und aus einigen Seminaren. Eigentlich hatte Carsten Georg an diesem Abend aufgesucht, um ein gemeinsames Referat vorzubereiten, doch davon konnte nun keine Rede mehr sein.
    »Ich dachte immer, ich könnte mir trauen«, fuhr Carsten fort. »Aber in Wahrheit betrügt mich mein Gehirn …«
    Georg runzelte seine wettergegerbte Stirn. Er war ein Öko-Guerilla, ständig an der Sonne, in der Natur, auf Anti-Atomkraft-Demos oder Friedensmärschen. An den Füßen höchstens Sandalen, am liebsten barfuß. Von seinen WG-Wänden herab protestierten Plakataufschriften gegen Polizeigewalt, Bildungsnotstand und Globalisierung. Die Regale ächzten unter dem Gewicht von Büchern und Tonträgern. Die Bewegungsfreiheit um den kleinen runden Teetisch, an dem sie saßen, wurde auf der einen Seite durch Georgs Nachtlager (zwei auf Paletten drapierte Matratzen) beengt, auf der anderen Seite durch einen mit Sprühfarben veredelten Kickertisch. Im Hintergrund lief eine Vinyl-Platte, von der ›Also sprach Zarathustra‹ in einer nervenschonenden Jazz-Version ertönte.
    Carsten ließ sich durch das Kaffeefleckige und Wurmstichige der WG-Möblierung nicht täuschen: aus den Seminaren kannte er Georg als messerscharfen Theoretiker, den er für fähig hielt, eine Geschichte auf ihre Wahrscheinlichkeit hin zu überprüfen. Dafür brauchte er ihn jetzt – als nüchternen Gutachter seiner Leidensgeschichte. Er begann zu erzählen. Georg lehnte sich in seinen Korbsessel zurück und zündete sich eine Pfeife an. Er lauschte mit einem Ausdruck großer Ernsthaftigkeit.

    *

    Wo beginnen?
    Der Schrecken hatte schleichend in Carstens Leben Einzug gehalten, war längere Zeit fühlbar gewesen, ohne benannt werden zu können – doch hatte alles, so schien es ihm im Rückblick, seinen Ursprung am Tag seines Umzuges, als er sich in der vollmöblierten Wohnung inmitten der Kartons wiederfand, die er gemeinsam mit einem Freund in dessen Auto hertransportiert hatte. Kaum dass er allein war, wurde ihm mit einer plötzlichen Heftigkeit bewusst, entwurzelt worden zu sein. Er war nicht nur in die Fremde geschleudert worden, sondern fühlte sich geradewegs herausgerissen aus jeder Struktur, die seinem Leben Form und Inhalt gegeben hatten. Er fühlte sich nicht länger geschützt , er fühlte sich ausgeliefert . Jeder rationale Versuch, sich mit der veränderten Situation auszusöhnen, scheiterte. Ihn hatte das Entsetzen eines Mannes befallen, der einen tödlichen, unkorrigierbaren Fehler gemacht hatte. Er hätte das Elternhaus und die Heimatstadt nicht verlassen dürfen.
    Er hatte begonnen, in seinem Zimmer auf und abzulaufen, zunächst von einer Wand zur anderen, dann im Kreis. Irgendwann hatte er sich soweit gesammelt, dass er mit dem Auspacken und Einräumen beginnen konnte. Es dauerte eine halbe Woche Quälerei, bis alles einen vorläufigen Platz gefunden hatte.

    *

    Das Wintersemester begann Anfang Oktober. Er hatte seine Wohnung Mitte

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