Diabolos (German Edition)
dir eine endogene Psychose diagnostizieren, Schizophrenie oder so. Das sind Krankheiten, die von Naturwissenschaft und Medizin als biologisch verursacht angesehen werden.« Georg warnte mit dem Zeigefinger. »Aber da liegt der Irrtum. Das sind nämlich nur Symptombilder, weißt du. Denk mal drüber nach. Ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass es die Gesellschaft ist, die diese Krankheiten hervorbringt?« Er machte eine kurze Pause und befeuchtete seine Lippen. »Zeit deines Lebens wirst du – werden wir – doppelt ausgebeutet; und zwar sowohl im Produktions- als auch im Konsumbereich! Ich sage: Praktisch unmöglich, da nicht krank zu werden!« Er begann jetzt zu gestikulieren. »Die kapitalistische Produktionsweise ist auf die Vernichtung von Arbeitskräften ausgerichtet. Menschliches Empfinden wird durch Gewaltpotentiale beantwortet. Krankheit ist nichts anderes als der bewusstlose Ausdruck … ähm, gesellschaftlicher Widersprüche … es ist ein Protest, verstehst du? Der Kapitalismus produziert Krankheit, um Kapital zu schaffen – das ist eine Art Vernichtungsprozess – ja ja, es ist wirklich so! Die Medizin ist daran beteiligt, vor allem die Psychiatrie, versteht sich.«
»Du willst sagen«, fragte Carsten zögernd, »wenn ich medizinische Hilfe suche, würde ich mich der Verschwörung ergeben?«
»Absolut!«, pflichtete Georg ihm aufgeregt bei. Er war aufgestanden und hatte zwei Schritte zu seinem Bücherregal getan. »Carsten, hast du schon einmal von dem sozialistischen Patientenkollektiv gehört? Nein? Oder von der Patientenfront? – Na ja, ist auch egal. Ich such dir was raus und geb’s dir mit.« Er verteilte einige Broschüren auf dem Tisch und begann zu blättern. »Hier steht es alles, musst du unbedingt lesen … oh, das ist brillant: Gesundheit ist ein biologisch-faschistisches Hirngespinst!«
Carstens Verzweiflung kehrte langsam zurück. Er erklärte Georg, dass er am Ende sei und nicht weiter wusste. Georg drückte ihm die Broschüre in der Hand, aus der er vorgelesen hatte. »Carsten … wir sind doch alle krank«, meinte er fest. »Du hast einen Anfang gemacht. Du hast es raus gelassen. Das ist gut. Jetzt geht es darum, diesen Moment auszunutzen. Du musst die Ursache deines Elends erkennen.« Er hob beschwörend die Hände. »Mach aus deiner Krankheit eine Waffe! Aus dem Widerstand muss der Angriff hervorgehen. Gesundheit ist gleichbedeutend mit Ausbeutbarkeit!«
»Mhm«, nickte Carsten ohne Überzeugung. Ihm fehlte die Kraft, den Gedanken des anderen zu folgen.
Georg redete noch eine Weile auf ihn ein, bis auch er erschöpft war und sich wieder seine Pfeife anzündete. »Ich sollte diesen Scheiß aufschreiben. Das ist echt gut«, meinte er schließlich anerkennend zu sich selbst. Dann zu Carsten: »Dir wird noch bewusst werden, wie sehr du im bürgerlichen Denken verwurzelt bist. Du wirst dich mit der Frage auseinandersetzen, ob nicht die Gesunden in unserer Gesellschaft in Wahrheit die Kranken sind, und umgekehrt. Den ersten Schritt hast du heute Abend getan. Es war echt poetisch, was du erzählt hast, ehrlich. Ein Sinnbild für den Zustand unserer Gesellschaft oder so.«
*
Georg war ein hochintelligenter Mann und er hielt Carsten nicht für verrückt. Als Carsten um die Mittagszeit des nächsten Tages in seinem Kellerzimmer aus einem furchtbaren Traum erwachte, hielt er sich auch nicht mehr für verrückt. Es bestand kein Zweifel, dass die Verschwörer vorhatten, ihn zu töten oder ihm Schlimmeres anzutun als den Tod.
Die Schriften, die Georg ihm auf den Weg gegeben hatte, würde er lesen, sobald er die Gelegenheit dazu hatte. Im Moment drängte die Zeit. Carsten setzte darauf, dass die Durchführung des gestern gefassten Plans seine Überlebenschancen erhöhen würde. Am späten Nachmittag meldete sich Tatjana auf seinem Handy, erzählte wieder von ihrem Großvater und kündigte ihren Besuch für den Abend an. Zu diesem Zeitpunkt hatte er das Szenario schon ’zig Mal durchgespielt. Er hatte eine reelle Chance, das mechanische Geschöpf heute Nacht zu überraschen, solange ihn Späh-Spinne nicht observierte. Wenn er sicher sein konnte, dass Tatjana “schlief“, würde er ihr das spitze Endstück des Schraubendrehers vorsichtig entweder ins Ohr oder in die Nase einführen – es kam darauf an, ob sie auf der Seite oder auf dem Rücken schlafen würde. Dann, sagte er sich, zack-zack, ein Stoß, möglichst tief, etwas hebeln … und vielleicht würde das der Moment der
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