Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Diabolos (German Edition)

Diabolos (German Edition)

Titel: Diabolos (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: torsten scheib , Herbert Blaser
Vom Netzwerk:
funktionierende Steckdose, aus der wir mit einer Unzahl von Verlängerungskabeln andere elektrische Geräte gespeist hatten. Ich erinnerte mich an das Zucken von Judiths Beinen im Moment des Einschlafens, an die Abende, die wir gemeinsam vor dem Fernseher verbracht hatten, und die mir jetzt wie eine verlorene Heimat vorkamen, ein Ort inmitten der Zeit , an dem alles seinen Platz hatte, ihr Kopf an meiner Schulter, unsere Blicke, die sich im den Bildschirm ausfüllenden Gesicht eines Schauspielers trafen, unser Atmen nebeneinander her. Und ich dachte an einen hohlen Morgen irgendwann, wie entlang einer perforierten Linie aus dem Zusammenhang getrennt, den wir mit grundlosem Lachen ausgefüllt hatten.
    Wenige Tage vor unserem Abflug gelang es mir, noch einmal unter fadenscheinigem Vorwand in die Stadt zu fahren. Mein Entschluss stand fest. Ich trat vor SIE hin.

    Er sah haarscharf an mir vorbei, an die Wand hinter mir. Noch nie habe ich einen solchen Blick gesehen wie den seinen in diesem Sekundenbruchteil, so weit entfernt von der Wahrnehmung der realen Umgebung, so verschleiert von der in ihm von dämonischem Leben erfüllten Erinnerung.

    Wir standen einander gegenüber.
    Als ahnte sie den Grund meines Kommens, sagte sie: »Wie du mich ansiehst …«
    Ich fragte wie hinter Schleiern hervor: »Wie sehe ich dich denn an?«
    Sie zögerte und krauste die Stirn. »Als wolltest du mich nie vergessen …«
    Wie zufällig – doch heute scheint mir keines, kein einziges der Geschehnisse damals mehr zufällig – fiel mein Blick in diesem Moment auf die Swatch an meinem Handgelenk, ein Geburtstagsgeschenk von Judith.
    Während ich noch ein dumpfes Gefühl von Entschlossenheit in mir verspürte, war ihr Blick dem meinen gefolgt. Ich beobachtete – teilnahmslos, als wäre ich nur ein zufälliger Zeuge der Geschehnisse –, WIE ihre Hand nach meinem Handgelenk mit der Uhr fasste. Ich hörte – höre es noch heute – das Klicken, als sie – geschickt waren ihre Finger, ach, wie geschickt! – den Druckverschluss des Uhrbandes lösten, ihr Blick hakte sich dem meinen unter und zwang ihn in seinen Bann. Das Aufschlagen der Uhr auf dem Boden, ich habe es nicht vergessen, das knirschende Geräusch, als sie mit der Spitze ihres Schuhs darauf trat, ich werde es nicht vergessen, das Glas splitterte, ich dachte: Wie man eine Zigarette austritt …
    Ihr Gesicht war meinem plötzlich sehr nah, so nah, wie es ihm niemals zuvor gewesen war. Nicht rechts, nichts links an ihm vorbei konnte ich blicken. Unausweichlich war es. Sie öffnete ihre Lippen meinen erregten Atemzüge.
    Nachdem wir uns zum ersten Mal geküsst hatten – ich küsste sie, sie ließ mich gewähren. Gott, wie blind war ich damals! –, sahen wir einander an. Wir sagten nichts. Wir schwiegen unser Schweigen. Dann strich sie mir mit dem Handrücken übers Kinn und fügte dieser Berührung – weniger zärtlich war sie denn nachsichtig – hinzu: »Es war schon Zeit, findest du nicht? Wir haben viel zu lange gewartet …«
    ES WAR SCHON ZEIT …
    Verstehen Sie?
    Wir haben viel zu lange gewartet …
    V e r s t e h e n S i e?
    Ich nahm ihren Kopf zwischen meine Hände. Sie schloss für einen Moment die Augen, wie zum Zeichen, dass sie mit dieser Form von Besitznahme einverstanden war.
    Alles wollte ich ihr sagen, alles, wie das so ist, wenn man mitgerissen wird von seinen Gefühlen, wollte reinen Tisch machen. Sie sollte wissen, dass ich eben noch die Absicht gehabt hatte, zu meiner Frau zurückzukehren, sie sollte, sie musste alles wissen.
    Sie sah mich an. Sie sah mich nur an. Sie sah mich an, als verstünde sie gar nicht, wovon ich redete.
    Ich verstummte erst angesichts des Ausdrucks, der sich plötzlich in ihrem Gesicht ausbreitete und ihre Züge verklärte.
    Er galt nicht mir, auch wenn ich es damals glaubte, sondern einem feinen Geräusch, das vom Dröhnen des Blutes in meinen Ohren, vom Tosen meiner Leidenschaft übertönt wurde, ein Geräusch, an dem das Bild umsprang und mich in den Moment zurückversetzte, da ich einst – lange, wie lange war das her! – den Ausführungen des Kunststudenten über die Besonderheit eines bestimmten Pendels zu folgen versucht hatte. – Die Bilder des Raumes damals und jetzt unterschieden sich nun um einen Fehler weniger …
    »WAS war es?«, drang ich aufgeregt in ihn.
    Er schwieg.
    Er schwieg mit geballtem Gesicht, als bereite es ihm unsägliche Mühen, durch die Schichten der Zeit zurückzufinden zu jenem Moment, da jemand –

Weitere Kostenlose Bücher