Diabolus
KAPITEL 101
David Becker hatte noch nie eine Pistole in der Hand gehabt. Er presste den Lauf der Waffe an die Schläfe des Attentäters, der zerschunden und verrenkt in der Düsternis des Treppenhauses der Giralda lag. Bei der geringsten Bewegung hätte er abgedrückt, aber der Mörder rührte sich nicht mehr. Hulohot war tot. Becker ließ die Waffe sinken. Ermattet setzte er sich auf eine Stufe. Seit einer Ewigkeit spürte er zum ersten Mal wieder den Drang zu weinen, doch er kämpfte ihn nieder. Für Gefühle war später noch Gelegenheit. Jetzt war es an der Zeit, nach Hause zu gehen. Becker versuchte aufzustehen, aber er war viel zu erschöpft, um sich zu bewegen. Lange hockte er auf der steinernen Wendeltreppe. Geistesabwesend betrachtete er den verrenkten Leichnam. Die ins Ungewisse glotzenden Augen des Killers wurden allmählich starr. Merkwürdigerweise hatte er die Brille noch auf. Eine seltsame Brille, dachte Becker, mit diesem Draht, der da hinten aus dem Bügel kommt und zu diesem flachen Kästchen am Gürtel hinunterführt. Doch die Erschöpfung war größer als seine Neugier. Beckers Blick fiel auf den Ring an seinem Finger. Sein Sehvermögen war wieder einigermaßen zurückgekehrt. Endlich konnte er die Inschrift lesen. Wie vermutet, war sie nicht Englisch. Lange betrachtete er die eingravierten Buchstaben. Und dafür lohnt es sich zu morden? Von der Morgensonne geblendet, trat Becker aus der Giralda in den Patio de los Naranjos hinaus. Die Schmerzen in seiner Seite hatten sich gelegt. Einen Augenblick lang hielt er wie betäubt inne und genoss den Duft der blühenden Orangenbäume. Langsam setzte er sich über den Innenhof in Bewegung. Als er den Patio hinter sich ließ, kam ein Lieferwagen mit quietschenden Reifen in der Nähe zum Stehen. Zwei Männer in militärischen Overalls sprangen heraus. Mit der Präzision eines Uhrwerks marschierten sie heran.
»David Becker?«, schnarrte der eine. Becker blieb wie angewurzelt stehen. Woher kennen die deinen Namen?
»Wer . . . wer sind Sie?«
»Bitte folgen Sie uns unverzüglich.« Die Situation hatte etwas Irreales. Beckers Nerven begannen wieder zu flattern. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück. Der Jüngere der beiden sah ihn mit eisigem Blick an.
»Mr Becker, bitte folgen Sie uns! Unverzüglich!« Becker wandte sich zur Flucht. Er kam nur einen Schritt weit. Einer der Männer zog eine Waffe. Ein Schuss bellte. Ein sengender Schmerzpfeil explodierte in Beckers Rücken und jagte hinauf in seinen Schädel. Seine Finger versteiften sich. Er ging zu Boden, und alles wurde schwarz.
KAPITEL 102
Strathmore war auf dem Grund des Silos angekommen. Als er im ohrenbetäubenden Lärm der Alarmhörner von der Gittertreppe heruntertrat, stand er zwei Zentimeter tief im Wasser, das aus der Sprinkleranlage in großen Tropfen durch die wirbelnden Dunstschwaden herabregnete. Dicht neben ihm rumorte es laut in dem riesigen Rechner. Er schaute zum Hauptgenerator hinüber. Das Aggregat mit Phil Charturkians verschmorter Leiche sah aus wie eine perverse Halloween-Dekoration. Strathmore bedauerte den jungen Mann, aber er hatte seinen Tod in Kauf nehmen müssen. Charturkian hatte ihm keine andere Wahl gelassen. Als der Techniker völlig außer sich und unter lautem Geschrei über einen Virus nach oben gerannt gekommen war, hatte Strathmore ihn auf einem Treppenabsatz des Wartungssilos abgefangen und versucht, ihn wieder zur Vernunft zu bringen. Aber Charturkian hatte vollkommen durchgedreht. Wir haben einen Virus!, hatte er gekreischt. Ich werde Jabba anrufen! Als er sich vorbeizudrängen versuchte, hatte Strathmore ihm auf dem schmalen Treppensteg den Durchgang verwehrt. Es war zu einem Handgemenge gekommen, das Geländer war nicht besonders hoch . . . Schon komisch, dachte Strathmore. Charturkian hat mit seinem Virus von Anfang an Recht gehabt. Der Absturz des Technikers hatte Strathmore das Blut in den Adern gefrieren lassen - erst der grässliche Schrei, dann die Stille. Aber es war bei weitem nicht so grauenhaft gewesen wie Strathmores nächste Entdeckung: Greg Hale hatte aus dem Halbdunkel entsetzt zu ihm emporgestarrt. In diesem Moment war ihm klar geworden, dass Greg Hale ebenfalls sterben musste. Im TRANSLTR knisterte es. Strathmore wandte sich wieder der vor ihm liegenden Aufgabe zu: Er musste den Strom abschalten! Der Notschalter befand sich links von der Leiche auf der anderen Seite der Kühlmittelpumpen. Strathmore konnte den Hebel
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