Diagnose zur Daemmerung
spendeten mir Trost. Dann stand er auf und schob mich beiseite.
Seine jetziges Äußeres war mir unbekannt, aber er war ein vollständiger Mensch – und hoffentlich gesund.
»Edie …« Ich hörte meinen Namen, aber Ashers Lippen bewegten sich nicht. Dann wurde mir klar, dass nicht er gesprochen hatte, sondern Ti.
»Warte kurz, ja?«, bat ich Asher, der gerade das fremde Gesicht betastete, das er trug. Schweigend nickte er.
Ich watete durch das eisige Wasser zu Ti, der sich halb aufgerichtet hatte. Santa Muertes Leuchten war nicht hell genug, als dass man darin jedes Detail hätte erkennen können; doch was ich bemerkte, sah nicht gut aus. Ti war von demselben Blitz erfasst worden, der auch Montalvo zerstört hatte.
»Lass mich mal sehen …« Ich drehte ihn zum Licht und zog die Hand weg, mit der er seine Seite umklammerte. Dort klaffte ein großes Loch, was eigentlich kein Problem sein sollte, da Ti schließlich ein Zombie war. Aber trotzdem … Verwundert hob er die Hand vor die Augen. Rote Flüssigkeit tropfte von ihr herab. »Ti …«
Der strenge Zug, der immer ein Teil seiner Miene gewesen war, verschwand. »Ist das möglich?«
»O Gott, o Gott, o Gott …« Da waren seine Rippen, ich konnte das bleiche Weiß der Knochen sehen, und das rosafarbene Gewebe darunter. Und er roch auch anders als damals, als er angeschossen worden war. Der Gestank von Tod und Verwesung fehlte. Nichts als Regen, der über die Wunde strömte und das Blut fortwusch. »Das ist nicht wahr.«
Ti streckte den Arm aus und zog mich an sich. »Es ist nicht deine Schuld, Edie.«
»O nein, Ti …«, presste ich quietschend hervor.
Er drückte mich kurz, dann zwang er mich, ihn anzusehen. »Es geht mir gut.«
»Ti …« Die Schuldgefühle erstickten mich fast. Ich hätte mich niemals von ihm abwenden dürfen. Mein Körper war schon ganz taub vor Kälte, außer mein Herz, das gerade brach.
» Sie hat es möglich gemacht. Sie wusste es einfach.« Zärtlich sah er mich an. In seinem Gesicht strahlte das reinste Glück. »Erinnere dich: Genau das wünsche ich mir schon so lange. Und das habe ich ernst gemeint.«
»Okay … Aber wenn du jetzt nicht in den Himmel kommst, werde ich höchstpersönlich da oben auftauchen und ein paar Arschtritte verteilen.«
Ti lachte, doch es endete in einem Husten. Ich schlang die Arme um ihn, und wir klammerten uns aneinander, bis ihn die Kräfte verließen. Sobald ich ihn losließ, würde er gehen. Und ich würde ihn niemals wiedersehen.
Zusammen sanken wir ins Wasser hinunter, und ich ließ sein gesamtes Gewicht mich herunterziehen, tauchte ein in meine Trauer und ließ mich fesseln von diesem Verlust.
Jemand griff nach mir und zog mich wieder an die Luft. »Lass mich los!« Verzweifelt sträubte ich mich, als ich auftauchte. »Ich muss bei ihm bleiben.«
»Nein, musst du nicht.« Vor mir stand jener Mann, den ich nicht kannte. Ja, ich wusste, dass er Asher war, aber ich war mir nicht ganz sicher, ob ich heute noch mehr Veränderungen ertragen konnte.
»Bist du … immer noch du selbst?«, fragte ich zögernd.
Er nickte und zog mich in seine Arme. »Und ich brauche dich hier bei mir.«
Kapitel 45
Ich schlang die Arme um Asher und fing an zu weinen. Dumpf dröhnte die Stimme in seiner Brust, als er sich an Santa Muerte wandte: »Ich fordere eine Erklärung.«
Obwohl ich noch schluchzte, löste ich mich von ihm, um zu sehen, was passierte.
Großmutter deutete auf Olympio und fing an zu sprechen. Der Junge übersetzte: »Du sollst meine Stimme sein, Kleiner. Und ich schulde niemandem weder eine Erklärung noch eine Entschuldigung.« Olympio übersetzte zwar ihre Worte, aber ihr Ton war unmissverständlich. »Die unterirdischen Wesen haben mich gefangen gehalten, und der bruja versuchte, mich zu bezwingen.«
Von Montalvo war nichts mehr übrig, nur ein schwarzer Fleck an der Betonwand zeigte an, wo er gestanden hatte. Alles, was ihn ausgemacht hatte, war verbrannt und in die Tunnel gespült worden. Santa Muerte sah uns der Reihe nach an und fuhr fort: »Ich erhöre die Gebete jener, die mich rufen – und ich habe eines für jeden von euch erhört. Damit habe ich mich gegen euch gnädiger gezeigt, als man es von mir erwarten darf.«
Plötzlich begriff ich, was mit uns passiert war: Ti hatte immer ein Mensch sein wollen, um endlich richtig sterben zu können. Ich hatte mich dafür entschieden, Olympio zu retten, und Asher hatte seine eigene Rettung gewählt. Mein Blick suchte Luz und Adriana
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