Diagnose zur Daemmerung
unten … und er auch …«, flüsterte ich. Sie brachten uns aus dem Tunnel zurück in den offenen Betongraben. Hier hatte das Wasser mehr Raum, um sich zu verteilen, und war flacher, doch die Strömung war gleich stark. »Montalvo ist wahnsinnig, Asher. Was er dir auch sagt – glaub ihm nicht.«
Ashers Hand war rot von Olympios Blut. »Ich weiß.«
Donner grollte, dann ging ganz in der Nähe ein Blitz nieder. Und dann sah ich es: In seinem grellen Licht erkannte ich, dass der Mann, der Olympio trug, nicht mehr ganz Asher war – und auch nicht wirklich Hector. Sein Gesicht schien zwischen zwei Formen hin-und hergerissen zu werden, asymmetrisch und uneinheitlich, als wäre es aus den Bestandteilen hunderter Menschen zusammengefügt worden.
»Nein!« Verzweifelt wollte ich mich aus Tis Armen entwinden.
Beruhigend flüsterte Asher auf Olympio ein, und Gestalt hin oder her – gekonnt wie ein Arzt übte er Druck auf die Wunde aus. »Schhhh.«
Das Rauschen des Wassers wurde lauter, offenbar floss hier die Regenmenge von ungefähr hundert Blocks zusammen. Schließlich wandten wir uns ab, um aus dem Graben herauszuklettern.
»Halt!«, rief eine bedrohliche männliche Stimme hinter uns. Im mittleren Tunneleingang erschien Montalvo, vollkommen ungerührt. Was war mit Adriana, Luz, Großmutter? Hatte die Magie sie alle drei verschlungen oder das Wasser?
Montalvo streckte die Hand nach Asher aus. »Ich wusste, dass du hier draußen bist. Es ist noch nicht zu spät für dich!«
Asher blieb stehen, ließ Olympio aber nicht los. Ganz langsam drehte er sich zu Montalvo, zu seinem Vater, um. Er stand so weit entfernt, dass ich sein Gesicht nicht sehen konnte.
»Komm zu mir, mein Sohn«, forderte Montalvo in einem Tonfall, der mich unweigerlich an meine Gefangenschaft in der Knochenkammer denken ließ. »Die Zeremonie kann fortgesetzt werden. Sie alle sitzen dort drinnen fest. Ich kann dich retten. Komm mit mir, dann wirst du es sehen.«
Asher setzte Olympio langsam ab. War das wirklich seine Wahl? Sein freier Wille? Oder stand er genauso unter Montalvos Kontrolle wie ich vorhin?
»Nein!« Wieder versuchte ich mit aller Kraft, mich aus Tis Griff zu befreien. Er drückte mich noch einen Moment an sich und half mir, meine Beine sicher auf dem Boden zu platzieren. Dabei glitten seine Lippen über meine Stirn.
»Sei vorsichtig, Edie«, flüsterte er. Als er davon überzeugt war, dass ich selbstständig stehen konnte, ließ er mich los und stürmte voran.
Ti erreichte Montalvo noch vor Asher und prallte mit der Wucht eines Lastzuges gegen ihn. Der bruja wurde gegen die Betonwand geschleudert und brach vor Tis Füßen zusammen. Am liebsten hätte ich einen Freudenschrei ausgestoßen, aber ich musste mich um Olympio kümmern. Vielleicht war das hier ja bald vorbei, und wir würden alle überleben. Doch die genauen Chancen wollte ich lieber nicht ausrechnen, als ich mich neben Olympio kniete.
Montalvo war schon wieder auf den Beinen, aber nun waren er und Ti in einen Ringkampf verwickelt, Arm in Arm und Brust an Brust. Als Zombie war Ti so ziemlich das einzige Wesen, dessen Gestalt Montalvo nicht annehmen konnte. Asher ging weiter langsam auf seinen Vater zu. Natürlich hoffte ich, dass nagender Widerwille ihn zögern ließ, aber darauf verlassen konnte ich mich nicht.
Vorsichtig zog ich Olympio aus dem Wasser. Er war blass und kalt. »Hey, hey!« Durch sanftes Schütteln brachte ich ihn wieder zu Bewusstsein. »Schön bei mir bleiben!«
Flatternd öffneten sich seine Lider. »Noch hast du mich nicht umgebracht.«
»Wo willst du hinfahren, Olympio?« Ich kniete mich in den Strom, um ihn aus dem Wasser rauszuhalten, und zog seinen Brustkorb bis zu meinem hinauf. Dann schlang ich beide Arme um ihn, damit weiter Druck auf seine Wunde ausgeübt wurde. »Ich meine, wenn wir hier raus sind. Mit meinem Auto?«
Er lächelte. »Disneyland.«
Trotz allem musste ich lachen. »Das ist aber ganz schön weit weg.«
»Ja, weiß ich.« Ich drückte ihn noch fester an mich.
Im hintersten Tunneleingang erschien Großmutter. Sie war wie eine mystische Kakerlake, die man einfach nicht totkriegte. Noch bevor ich diesen Gedanken zu Ende gebracht hatte, drehte sie sich in meine Richtung und warf mir einen stechenden Blick zu.
Montalvo versetzte Ti einen heftigen Stoß, sodass dieser in die Knie ging. Großmutter stiefelte um die Kämpfenden herum und hielt auf mich zu. Währenddessen fiel mir auf, dass an dieser Szene irgendetwas nicht
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