Diagnose zur Daemmerung
hielt sie aber mit einem Fuß offen. Erst nach einem gründlichen Rundumblick war ich sicher, dass ich nichts beziehungsweise niemanden übersehen hatte. Verlegen winkte ich dem Hausmeister zu, falls ich ihn gestört haben sollte.
Die alte Frau war nicht da. Verdammt.
War Santa Muerte für diese Frau tatsächlich eine Heilige – oder eher eine Vertraute? Glaubenskonzept – oder greifbares Wesen? Wäre sie doch bloß noch hier, dann könnte ich sie fragen. Warum hatten die Schatten ihren Auftrag nicht etwas präziser formuliert? Sie hätten mir ja wenigstens ein paar Hinweise geben können … Aber egal ob Person, Ort oder Ding – falls die Schatten meine Mom wirklich heilten, würde ich Santa Muerte aufspüren. Niedergeschlagen ging ich zurück in Tovars Büro, um dort auf ihn zu warten.
Während der nächsten Stunde, die der Doktor brauchte, um fertig zu werden, konnte ich mich davon überzeugen, dass die medizinischen Fachbücher im Regal tatsächlich uralt waren. Nicht so alt, dass sie die Lehre der Körpersäfte oder Geistheilungen propagierten, aber doch sehr alt. Hoffentlich wurden sie hier nicht wirklich dazu benutzt, sich Behandlungsmethoden anzulesen.
Gedankenverloren strich ich über die Stelle an meiner Schulter, wo Dr. Tovars Jackett mich berührt hatte. Kaum zu glauben, dass derselbe Mann, der mich heute Morgen so ungerührt abgewiesen hatte, gleichzeitig so leidenschaftlich sein konnte, wenn es um das Wohl seiner Patienten ging. Im Flur hüstelte jemand, offenbar war ich gerade beim Schnüffeln ertappt worden.
»Tut mir leid, ich bin von Natur aus neugierig.« Ich kam hinter seinem Schreibtisch hervor, während Dr. Tovar das Büro betrat. »Was hatte das alles zu bedeuten?« Ich bildete mit Daumen und Zeigefingern zwei Pistolen und tat so, als würde ich auf die Wand schießen.
»Revierkämpfe.« Anscheinend wusste Dr. Tovar nicht, wie er es mir anders erklären sollte. Seine Wut war noch da, aber er hielt sie im Zaum. Äußerlich wirkte er zwar gelassen, aber ich konnte sehen, dass sie in ihm brodelte. Wäre er ein Formwandler gewesen, hätte es mich nicht überrascht, wenn er sich jetzt verwandelt hätte. Wir setzten uns. »Es ist Wahljahr. Der amtierende Bürgermeister geht in dieser Gegend verstärkt gegen das Verbrechen vor, ganz gezielt von außen nach innen. Weniger Platz, größerer Druck. Als würde man einen Deckel auf einen kochenden Topf drücken.«
»Kommen hier öfter solche Fälle rein?« Jetzt richtete ich eine meiner eingebildeten Waffen auf meine Schulter.
»Oft genug.«
»Und Sie holen sich keine Hilfe von außen?« Es gab keinen Grund, mir irgendwelche Fragen zu verkneifen; immerhin war ich ja schon abgewiesen worden.
»Es hat seine Gründe, warum Leute wie die nicht den Notarzt rufen.« Plötzlich verschwand die Wut aus seiner Miene, und der Blick seiner dunklen Augen wirkte erschöpft.
»Und wenn die Verletzung schlimmer gewesen wäre?«
»Dann hätte ich Verstärkung gerufen. Wir sind eine kleine Klinik, ohne Notaufnahme. Ich würde sicher nicht zulassen, dass ein Patient hier stirbt, nur um meinen Stolz nicht zu verletzen.« Er zuckte mit den Schultern. »Haben Sie eigentlich immer Einweghandschuhe dabei?«
Ich nickte. »Und Handdesinfektionsmittel. Die Welt ist schließlich ein ekelhafter Ort.«
Er schnaubte zustimmend, dann starrte er angestrengt auf seinen Schreibtisch, als würde er gründlich nachdenken.
»Wer ist Montalvo?«, fragte ich.
Bei der Frage blickte er hoch. Betont langsam schüttelte er den Kopf und runzelte die Stirn. »Sie haben heute Dinge gesehen, die sie besser nicht gesehen hätten, Schwester Spence.« Diesen Satz hatte ich so oder so ähnlich schon zu oft gehört. Ich hielt den Atem an. »Wahrscheinlich rechnen Sie damit, dass ich Sie jetzt doch einstellen werde. Damit Sie nicht rumlaufen und den Leuten erzählen, wie ich diesen Laden hier führe.«
Ich lehnte Erpressung zwar nicht grundsätzlich ab, zumindest nicht wenn ein triftiger Grund vorlag, aber einen Job zu bekommen zählte für mich nicht dazu. »Nein, das denke ich überhaupt nicht.« Als ich fortfuhr, wurden seine Augen schmal. »Und ich verurteile Sie auch nicht. Ich habe früher selbst an einigen … ungewöhnlichen Orten gearbeitet, die ich auch nicht in meinem Lebenslauf angeben würde.«
Überrascht zog er die Augenbrauen hoch. »Zeugin eines versuchten Mordes zu werden, schreckt Sie also nicht ab?«
Wenn der wüsste, was für Geheimnisse ich hüten musste! »Ohne
Weitere Kostenlose Bücher