Diagnose zur Daemmerung
jetzt groß ins Detail zu gehen: Ich habe schon Schlimmeres gesehen, glauben Sie mir.«
Nachdenklich neigte er den Kopf. »Das ist seltsam. Sie sehen aus wie jemand, der sofort zur Polizei rennen würde.«
»Jetzt bin ich verwirrt. Wollen Sie nun, dass ich meine bürgerliche Pflicht tue, Sie bei den Behörden anzeige und dafür nicht eingestellt werde? Oder wollen Sie, dass ich ein nützlicher, moralisch flexibler und bezahlter Arbeitnehmer bin? Denn ganz ehrlich: Mir gefällt die Variante, in der ich den Job bekomme, wesentlich besser.«
Bei diesem Einwand erschien ein kaum wahrnehmbares Lächeln auf seinem Gesicht. »Sie scheinen zumindest grundlegend zu begreifen, was bei uns zweckmäßig ist, und verfügen über die nötigen Kenntnisse Ihres Berufsstandes. Und so wie der Sommer sich bisher entwickelt, könnte das für mich wertvoller sein als Spanischkenntnisse.«
Verwirrt blinzelte ich ihn an. »Geben Sie mir den Job tatsächlich?«
»Jawohl. Wenn Sie ihn noch wollen, gehört er Ihnen, auch wenn ich kein gutes Gefühl bei der Sache habe.«
Ich zögerte. Das hatte ich doch gewollt, oder? Ja, aber wie schon so oft entwickelte sich die Sache nicht hundert Prozent so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Und trotzdem war dieser Ort mein einziger Anknüpfungspunkt zu Santa Muerte, wer oder was auch immer sie sein mochte.
»Ach, sind Sie zur Vernunft gekommen und haben nun doch Angst?«, fragte Tovar selbstgefällig.
Was sollte ich darauf antworten? »Ich will den Job.«
»Dann sehen wir uns morgen, Sie fangen um acht Uhr an.« Er zeigte auf die Tür.
Ich nickte kurz. Erst als ich schon halb draußen war, fiel mir auf, dass er meine Frage nach Montalvo nicht beantwortet hatte.
Der Wartebereich war noch immer leer, obwohl der Hausmeister ganze Arbeit geleistet hatte. Vielleicht würde die alte Frau ja morgen wiederkommen. Sie hatte Santa Muerte angerufen, als wäre sie eine persönliche Bekannte von ihr – und doch war es ein Gebet gewesen, mit Rosenkranz und allem. Und wenn es einen Menschen gab, der zu Santa Muerte betet und über sie Bescheid wusste, egal wie genau, dann musste es auch noch andere geben. Ich musste sie nur finden.
Draußen trat mir wieder der Junge von vorhin in den Weg. »Oh, Lady, Sie brauchen immer noch eine limpieza . Dringend. Das sagt mir meine don .«
»Wie kann ich etwas brauchen, wenn ich gar nicht weiß, was es ist?« Vor der Tür klebte noch Blut auf dem Boden. Es trocknete bereits und war dunkler als die anderen Flecken, die den Beton zierten. Ich fragte mich, ob der Hausmeister überhaupt daran gedacht hatte, auch hier draußen sauber zu machen.
»Mein Großvater Don Pedrito kann Sie heilen.« Voller Überzeugung schlug er sich gegen die Brust.
»Pass auf.« Er war spindeldürr, seine Handgelenke waren so schmal, dass ich sie komplett umschließen könnte und immer noch Luft zwischen meinen Fingern wäre. »Ich habe kein Geld. Aber ich werde morgen wieder hier sein. Dann bringe ich dir ein Sandwich mit.«
Ruckartig zog er den Kopf zurück, fast als hätte ich ihn geschlagen. »Ich brauche Ihre Almosen nicht!«
»Und ich brauche deine lim-pizza nicht. Was zum Teufel das auch sein mag.« Ich stieg über den Blutfleck hinweg.
»Irgendwann werden Sie sie brauchen. Auf Ihnen liegt ein Fluch. Sie werden schon sehen.«
»Morgen vielleicht, heute nicht mehr.«
Er seufzte schwer und warf mir einen finsteren Blick zu. Achselzuckend ließ ich ihn stehen und lief die zwei Blocks zur Haltestelle. Es war immer noch hell, die Menschen hier machten mir keine Angst mehr, ich fühlte mich einfach nur lebendig.
Und als ich nach Hause kam, rief ich in der Schlafklinik an und kündigte offiziell.
Kapitel 6
Um halb sieben am nächsten Morgen fühlte ich mich wesentlich weniger lebendig. Einzuschlafen war dank Stilnox kein Problem gewesen. Aber halb sieben … das war so früh, dass ich mich richtig schwach fühlte. Ich stand ganz vorsichtig auf, als könnte der Boden unter mir weggleiten, dann stolperte ich zur Kaffeemaschine, unter die Dusche und aus dem Haus. Im letzten Moment dachte ich noch daran, mir ein Sandwich zu machen und ein zweites für den Jungen. Falls er nicht auftauchte, konnte ich es später selbst essen.
Als ich in der Hochbahn saß, war ich kurz in Versuchung, meine Mom anzurufen und Pläne für den Abend zu machen, aber ich wusste nicht, wie ihr momentaner Schlafrhythmus aussah. Stattdessen nahm ich mir vor, es später bei ihr zu versuchen.
Heute war die
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