Diagnose zur Daemmerung
zuhörte, verwandelte er sich plötzlich in einen richtigen Fremdenführer. Als wir das Ende des nächsten Blocks erreichten, blieb er abrupt stehen.
»Siehst du das da?« Er deutete auf eine Wandbemalung, die aus drei großen Kreuzen bestand. »Da beginnt das Revier der Drei Kreuze. So kennzeichnen sie ihr Gebiet.«
Das musste die Gang sein, der die beiden Männer von gestern angehört hatten – dieses Zeichen hatte ich an ihrem Hals bemerkt und auch, als ich mir das Bild der Klinik online angesehen hatte, auf der Mauer direkt hinter Santa Muerte. »Soll das eine Art Warnschild sein?«
»Das soll heißen, dass wir jetzt besser umkehren.«
Ich blieb mitten auf der Straße stehen und musterte die Wandbemalung. »Worum kämpfen sie denn?« Mir waren auf unserem Weg keinerlei Goldminen ins Auge gesprungen.
»Um ihr Revier.«
»Wirklich? Ich habe gehört, wie einer der beiden einen Zehnten erwähnt hat, kurz bevor Dr. Tovar ihnen gesagt hat, sie sollen sich verpissen.« Angestrengt versuchte ich, mich an den genauen Wortlaut zu erinnern. Alles war leicht verschwommen, da ich schließlich ziemliche Angst gehabt hatte, erschossen zu werden.
Olympio machte einen kleinen Luftsprung und lachte. »Ha!«
Ich runzelte verwirrt die Stirn. »Ich dachte, du kannst Ärzte nicht ausstehen?«
»Wir pflegen unterschiedliche Geschäftspraktiken. Aber ich habe nie gesagt, dass ich Dr. Tovar nicht leiden kann«, klärte Olympio mich auf.
»Also, wozu braucht eine Gang einen Zehnten?«
»Das ist nur ihr protziger Name für das Schutzgeld, das sie kassieren. Wenn man ihnen Geld gibt, beschützen sie einen vor ihren eigenen Leuten, und davon bauen sie dann ihre schicke Kirche für Santa Muerte. Als ob sie eine Kirche bräuchte oder überhaupt eine haben wollte.« Olympio schien diesen Gedanken höchst abstoßend zu finden.
Ich versuchte, ganz entspannt zu bleiben und mir meine Aufregung nicht anmerken zu lassen. »Wer ist sie?«
Olympio warf mir einen seltsamen Blick zu. »Sie ist eine von uns. Sie kennt unsere Herzen.«
Mensch? Heilige? Seltener Alien aus Star Trek ? Egal – wenn die Schatten nach ihr suchten und ich sie gegen die Heilung meiner Mom eintauschen konnte, musste ich sie sehen. »Kannst du mich zu ihr bringen?«
Ruckartig schossen Olympios Augenbrauen in die Höhe, und er musterte mich verblüfft. Dann zuckte er mit den Schultern. »Klar doch.«
Wir bogen in eine Seitenstraße ein, die uns zu einem anderen Häuserblock führte.
Sollte es tatsächlich so einfach sein? Nie im Leben. Falls doch, hätten die Schatten das doch selbst geschafft. Trotzdem machte ich mir Hoffnungen, während ich hinter dem Jungen herwanderte. Keine Ahnung, wie ich Santa Muerte einfangen sollte, aber mir würde schon noch etwas einfallen. Zur Not einfach lügen. Ich würde alles tun, um meine Mom zu retten.
Olympio betrat schließlich eine Gasse, deren gesamte Mauer mit einem leuchtenden Gemälde bedeckt war. Auf blauem Hintergrund waren rote, grüne und gelbe Kreise aufgebracht, in deren Mitte eine Frauengestalt aufragte, wie Venus, die in einer bunten Muschelschale dem Ozean entsteigt. Ihre purpurrote Robe fiel bis über ihre Füße, und der Boden unter ihr war mit roten Rosen bemalt, die so groß waren wie Kleinwagen. Nur eines passte nicht ganz ins Bild: Statt eines Gesichts blickte ein Totenschädel aus der tiefen Kapuze hervor, und ihre Hände waren die eines Skeletts. In ihrer Rechten hielt sie einen Globus, als wollte sie sein Gewicht prüfen.
Über ihrem Kopf stand in dicken Buchstaben, die dieselbe Farbe hatten wie die Rosen: Reina de la Noche.
Rund um das Bild und die Rosen war die blau getünchte Mauer mit Namen bedeckt. In mehreren Schichten waren sie übereinandergeschrieben, als würden verschiedene Gruppen Anspruch auf sie erheben, dazu noch unzählige Einzelnamen, die nicht von den Künstlern, sondern einfach mit Tinte oder Kugelschreiber angebracht worden waren, teilweise sogar eingemeißelt.
Olympio blieb vor dem Bild stehen, und als mir klar wurde, was das hieß, schwand jede Hoffnung. »Das ist sie?«
»Genau. Das hier ist das letzte Wandbild, das die Drei Kreuze noch nicht mit ihrem Zeichen versehen haben. Sie tun so, als würden alle ihnen gehören. Und wenn sie mitkriegen, dass man vor einem der Bilder betet, die sie kontrollieren, dann kommen sie und treiben den Zehnten ein.«
»Den Zehnten wovon?«
»Was du gerade bei dir hast. Und wenn du dich dagegen wehrst, nehmen sie dich mit und du tauchst nie
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