Diagnose zur Daemmerung
Papierkram, oh, und wenn es wirklich übel wird, musst du Triage machen.«
»Wie oft kommt das vor?«
»Alle paar Monate. Immer, wenn die Gangs in den Krieg ziehen. Die Krankenwagen holen die Toten ab, und wir kümmern uns um die Überlebenden.«
»Wann war das letzte Mal?«
Sie presste die Lippen zusammen. »Bald steht wieder etwas an. Liegt an der Hitze oder so, macht die Leute aggressiv und dumm.«
»Wie hält es Dr. Tovar mit der Meldepflicht?« Ich wollte nicht direkt nach der Schussverletzung vom Vortag fragen.
Ihre Miene verriet mir, dass sie mich verstanden hatte, auch wenn sie mir keine eindeutige Antwort gab. »Das kommt darauf an.«
Ich zuckte kurz mit den Schultern. »Alles klar.« Was Regeln anging, nahm ich es öfter mal nicht so genau, vor allem nicht, wenn ich sie gar nicht kannte.
Sie reichte mir einen Schlüsselbund. »Was geklaut werden könnte, ist unter Verschluss. Und hier könnte so ziemlich alles geklaut werden.« Offenbar nahm sie die Erfahrungen, die ich im Krankenhaus gesammelt hatte, nicht für voll. »Ich weiß ja nicht, wo du bisher gearbeitet hast. Die meisten Menschen sind nett, und auch die Bösen brauchen unsere Hilfe. Aber es hat seine Gründe, warum zwischen uns und der Außenwelt eine kugelsichere Scheibe installiert ist.«
Schweigend folgte ich ihr, während sie mich herumführte. Es gab drei kleine Behandlungszimmer, dazu Dr. Tovars Büro und in der Mitte des Gebäudes noch ein etwas größeres Büro mit angeschlossenem Pausenraum. Anschließend führte Catrina mich in Behandlungszimmer Nummer eins und sagte: »Warte hier.«
Also wartete ich. Ich probierte meine Schlüssel durch, bis ich den für den Wandschrank fand, damit ich mir ansehen konnte, was wo aufbewahrt wurde. Während ich gerade ein paar Schachteln Verbandsmull zur Seite schob, öffnete sich die Tür hinter mir, und ein Mann kam herein.
»Er hat Fieber, sein Name ist Frank«, rief Catrina vom Flur herein.
Ich erkannte eine Alkoholleiche, wenn ich sie sah – oder in diesem Fall roch. Angewidert wich ich ein paar Schritte zurück und signalisierte dem Patienten, dass er sich auf den Behandlungstisch setzen solle. Er war ein Weißer, hatte aber viel Zeit in der Sonne verbracht. Taumelnd näherte er sich dem Tisch und lehnte sich kurz dagegen, als müsse er sich übergeben oder einfach umkippen, doch dann fiel ihm wieder ein, dass er sich ja umdrehen und hinsetzen sollte.
Er roch nach schalem Bier, Pisse und was sich sonst noch ergibt, wenn man sich nie wäscht und einen Monat lang dieselbe Hose trägt.
»Hallo, Frank. Wie kann ich Ihnen helfen?«
Er musterte mich von oben bis unten – sogar sein Blick war widerlich. Mein Krankenschwesternradar und meine Lebenserfahrung als Frau verrieten mir, dass seine Antwort völlig daneben sein würde.
»Du kannst mir ’nen Kuss geben«, lallte er und lehnte sich gefährlich weit vor.
Ich drückte mit einer Hand gegen seine Schulter, um ihn wieder aufzurichten. »Nein, danke. Warum sind Sie hier?«
Mühsam krempelte er einen Ärmel hoch, unter dem die Spuren seines Lebens zum Vorschein kamen. Vertiefungen abgeheilter Geschwüre, wo er sich die Haut aufgekratzt hatte, einige gerade Schnitte an den Handgelenken, wahrscheinlich selbst beigebracht, als er nüchtern war. Der Preis eines harten Lebens ohne regelmäßige medizinische Betreuung.
Da er an diesem Arm offenbar nicht fand, was er suchte, krempelte er den anderen Ärmel hoch, und da sah ich es. Ein Verband, der fast ebenso verdreckt war wie der Mann selbst, direkt in der Armbeuge. Entweder hatte er eine schmutzige Nadel benutzt oder an der Einstichstelle Dreck auf der Haut gehabt, sodass er die Bakterien der Außenwelt in sein Fleisch gedrückt hatte, wo sie sich prima vermehren konnten.
Von meinem Bruder wusste ich, dass es in dieser Stadt keine Nadelaustauschprogramme gab. Schnell zog ich mir ein zweites Paar Handschuhe über.
Dummerweise musste ich mich, um mir seine Wunde ansehen zu können, in die Reichweite seines Atems begeben. Vorsichtig zupfte ich an dem Pflaster, das mit den Haaren an seinen Armen verschmolzen zu sein schien. Der Patient grunzte schmerzerfüllt, bis es mir endlich gelang, es zu lösen. Dabei fiel der gesamte Verband von dem Abszess ab. Das roch noch schlimmer als sein ungewaschener Körper, und es überraschte mich ein wenig, dass mir keine fröhlichen Maden entgegenkrochen.
»Soll ich Ihnen einen neuen Verband machen, Frank?«, fragte ich. Sein gesamter Arm war rot und
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