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Diagnose zur Daemmerung

Diagnose zur Daemmerung

Titel: Diagnose zur Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cassie Alexander
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geschwollen, und ich brauchte nicht einmal ein Thermometer; sein Fieber war so hoch, dass ich es durch die Handschuhe spüren konnte. Er schien nun völlig weggetreten zu sein. War das sein Normalzustand? Konserviert durch Alkohol? Oder hatte die Infektion bereits sein Gehirn angegriffen? Schwer zu sagen, wenn man die Vorgeschichte nicht kennt. »Warten Sie kurz.«
    Ich holte mir eine Schachtel mit alkoholischen Tupfern aus dem Schrank und wischte damit nach und nach den Schmutz von der Wunde, um ihre Ränder erkennen zu können. Die Haut rund um die Verletzung war so angeschwollen, dass sie spannte, und in ihrer Mitte klebten Lymphflüssigkeit und Eiter. Als ich sah, wie weit sich die Entzündung ausgebreitet hatte – die Schwellung erstreckte sich strahlenförmig fast bis zum Handgelenk hinunter und weit in den Oberarm hinauf –, verzog ich das Gesicht.
    »Sie brauchen Antibiotika.« In einem Krankenhaus. Wer auch immer ihn an den Tropf hängen musste, tat mir jetzt schon leid. Er murmelte etwas; keine Ahnung, ob er Selbstgespräche führte oder mit mir redete. »Ich hole jetzt den Arzt, Sir.«
    An der Tür drehte ich mich noch einmal um. »Hey!« Ich hob eine Hand und winkte, bis sein Blick sich auf mich richtete. Immerhin lebte er doch hier. »Wissen Sie irgendetwas über Santa Muerte?«
    Mit seiner gesunden Hand bekreuzigte er sich. Dann verlor er das Bewusstsein.
    Ich beaufsichtigte den Betrunkenen, bis der Krankenwagen kam. Ein paarmal wachte er auf und wollte gehen, sodass ich ihn wieder einfangen musste. Zum Glück konnte er kaum sprechen und damit auch keine Behandlung verweigern. Nichts ist trauriger als ein Patient, der noch klar genug ist, um zu sagen: »Lasst mich in Ruhe, der Schnapsladen macht um neun zu.« Die Sanitäter lenkten routiniert ihre Rolltrage durch die engen Flure und schnallten ihn ohne viel Federlesens fest. Und wie sollte es anders sein: Sie kannten ihn bereits.
    Als sie fertig waren und Dr. Tovar die notwendigen Formulare unterzeichnet hatte, kam er zu mir und meinte: »Entzündung des Zellgewebes? Gut geraten.«
    Eigentlich nicht. Sein Anblick und sein Geruch waren schon ausreichend gewesen, um zu erkennen, dass er eine Entzündung haben musste. Jede Wette, dass er voller Staphylokokken war. Wie gut, dass mein Immunsystem seit meiner Zeit im Krankenhaus so bullenstark war.
    Ganz nebenbei drängte sich mir der Gedanke auf, wie es wohl meinem Bruder ging. Ob er überhaupt wusste, dass Mom Krebs hatte. Ob es ihn überhaupt kümmerte.
    Frank hatte auch eine Mutter.
    »Sie werden es sich jetzt nicht doch etwa anders überlegen, oder?«, fragte Dr. Tovar und warf mir einen scharfen Blick zu. Er schien besorgt zu sein.
    Ich schüttelte den Kopf und kehrte in die Realität zurück. »Nein, nein. Ich bin es nur nicht mehr gewöhnt, tagsüber zu arbeiten. Aber das kommt noch, spätestens Ende der Woche«, versprach ich ihm mit einem Lächeln.
    Sein Blick wurde weich. Vielleicht durchschaute er meine gespielte Tapferkeit. Davon bekam er hier wahrscheinlich jede Menge zu sehen. Übertrieben gründlich sah er auf seine Uhr. »Warum machen Sie dann nicht etwas früher Mittagspause? Auf dem Parkplatz hinten im Hof steht eine Bank. Sie können aber natürlich auch hier drinnen essen.«
    »Danke.«
    Er nickte mir noch einmal zu, dann verschwand er wieder in seinem Büro.
    So früh machte noch kein anderer Mittag. Ich holte mein Essen, das ich in dem kleinen Kühlschrank im Pausenraum verstaut hatte, während Dr. Tovar an mir vorbeilief, weil Catrina ihn in eines der Behandlungszimmer gerufen hatte. Zunächst suchte ich erfolgreich die Toilette, dann sah ich mich noch einmal auf dem Gang überall um. Eine Tür hatte Catrina bei unserem Rundgang nicht geöffnet. Ich drückte auf die Klinke – nicht abgeschlossen. Vielleicht die Herrentoilette? Bisher war Dr. Tovar der einzige Mann, den ich hier gesehen hatte. Ein Blick hinein zeigte mir, dass es sich um einen engen Lagerraum handelte. Ganz hinten stand ein kleiner Kühlschrank.
    Medizinische Kühlschränke unterscheiden sich etwas von Haushaltskühlschränken: Sie sind alle abschließbar und aus Edelstahl. Der schwere Schlüsselbund in meiner Tasche drängte sich in mein Bewusstsein. Hastig holte ich ihn raus und suchte nach den kleinen Schlüsseln, die in solche Schlösser passten.
    Treffer! Ich öffnete die Kühlschranktür.
    In einem dreireihigen Gestell waren mehrere Probenröhrchen verstaut. Ich holte eines davon raus. Der rote Deckel hatte die

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