Diagnose zur Daemmerung
Straßenlaterne, sodass ich sehen konnte, wie Hector besorgt das Gesicht verzog. »Für die Art von Krankheit, an der du gelitten hast, war er nun einmal der beste Arzt.«
»Kann er auch Krebs heilen?«
»Nein.« Er wich zurück, als hätte ich ihm einen Schlag versetzt. »Du hast Krebs?«
»Nein, aber meine Mom. Und ich war gestern Abend mit ihr verabredet.« Hektisch wühlte ich in meinen Taschen, suchte nach meinem Handy oder irgendetwas anderem Brauchbarem, bevor ich begriff, dass Hector wahrscheinlich nicht daran gedacht hatte, meine Handtasche mitzunehmen, als er mich aus dem Haus schaffte. »Sie ist bestimmt ganz krank vor Sorge.« Wenn ich nur der einzige Grund für ihren Zustand gewesen wäre …
»Edie … das wusste ich nicht. Es tut mir furchtbar leid.«
»Deswegen habe ich überhaupt den Job bei dir angenommen. Als ich ihre Diagnose erfuhr, konnte ich den Gedanken nicht ertragen, auch nur eine Nacht länger in dieser Schlafklinik zu arbeiten. Ich konnte nicht da rumsitzen und nichts tun. Das hätte mich wahnsinnig gemacht.« Verzweifelt sah ich mich um und versuchte herauszufinden, wo ich war und wo die nächste Hochbahn hielt, dabei hatte ich doch gar kein Geld dabei. Aufgebracht wirbelte ich zu Hector herum. »Ich muss sofort nach Hause. Ich muss sie heute Nacht noch anrufen, auch wenn ich sie damit wecke.«
»Warum benutzt du nicht einfach mein Telefon?« Ohne zu zögern wollte er es mir geben.
Er hatte recht. Die Nummer meiner Mutter konnte ich auswendig, seit wir in der zweiten Klasse in dieses Haus gezogen waren. Wortlos streckte ich die Hand aus, Hector ließ das Telefon hineinfallen, und ich wählte.
»Mom? Peter … ja, Peter, alles in Ordnung. Es tut mir leid. Ich war krank. Nein, jetzt geht es mir besser, danke. Wirklich krank. Ich benutze gerade sogar das Telefon des Arztes, wir sind befreundet.« Dabei warf ich Hector einen drohenden Blick zu. Falls meine Eltern anrufen sollten, um sich nach mir zu erkundigen, sollte er mich gefälligst decken. »Ja. Sag ihr, ich habe sie lieb, und sie soll sich keine Sorgen machen, okay? Alles klar. Danke.«
Damit legte ich auf und gab Hector das Telefon zurück. Ein kleiner Teil meiner Schuld war dadurch abgegolten.
»Hätte ich das gewusst, Edie …«, sagte er entschuldigend. »Warum nimmst du dir nicht ein paar Tage frei, um die Nachricht richtig zu verarbeiten?«
»Auf keinen Fall. Mit mir alleine sein, das kann ich gar nicht. Und ich kenne niemanden, der alleiner wäre als ich.«
Er musterte mich skeptisch. »Schwer zu glauben.« Dann breitete er einladend die Arme aus. Wie gerne hätte ich mich hineinsinken lassen, einfach nur, um einen anderen Menschen zu spüren, um seine Wärme in mich aufzunehmen.
Ganz bewusst trat ich einen Schritt zurück, damit ich keine Dummheiten machte. »Glaub was du willst, das ist die Wahrheit.« Da ich nicht zulassen konnte, dass er mich in den Arm nahm, schlang ich die Arme um mich selbst. Hier draußen war es kühl, und das Oberteil, das Hector mir rausgesucht hatte, war nicht besonders dick. O Gott, er hatte mir sogar einen BH angezogen. Sicher, er war Arzt – ich hatte bei der Arbeit auch schon so viele Penisse gesehen, dass ihr Anblick jeden Reiz verloren hatte –, aber er war immer noch mein Boss! »Was ist mit mir passiert?« Vorsichtig strich ich über meinen Hals. Die Kratzwunden waren noch da, aber nicht mehr so geschwollen, und sie taten auch kaum noch weh.
Hector ließ die Arme sinken. Der Moment war vorbei. » Susto. Laienhaft ausgedrückt, hat sich ein Teil deines Geistes verflüchtigt. Der curandero hat ihn eingefangen und wieder in dir verankert.«
Ich schnaubte abfällig. »Habe ich jetzt irgendwo einen Korken, von dem ich wissen sollte?«
»Nein. Aber du solltest nicht immer so hart zu dir sein.« Vollkommen gelassen trat er vor mich, als ob er mich durch seine Ruhe dazu zwingen könnte, mich zu entspannen. Er hatte kein Jackett an, und durch die direkte Nähe konnte ich ihn sogar riechen. Deodorant und ein Hauch des Schweißes, gegen den es ankämpfte. Er roch wie ein Mann. Die Nachtluft war frisch, aber seine Hände waren bestimmt warm.
»Woher wusstest du gestern, dass du nach mir sehen musstest?« Ich blickte zu ihm hoch, wich aber nicht zurück.
Fragend sah er mich an, mir war aber nicht klar, welche Antworten er in meinen Augen zu finden hoffte. »War nur so ein Gefühl.«
»Um elf Uhr abends?«
»Ich sehe gewisse Dinge. Wie Olympio.« Kopfschüttelnd wandte er den Blick ab.
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