Diagnose zur Daemmerung
»Ich will nicht, dass du wieder verschwindest.«
Er erwiderte nichts, sondern hielt mich einfach nur fest.
Wäre es nach mir gegangen, wären wir ewig so verharrt. Ich wollte ihn nicht loslassen. Doch viel zu schnell drückte er noch einmal meine Schultern und löste sich dann von mir. Seufzend lehnte ich mich zurück.
»Ich habe Catrina versprochen, dass ich ihr heute alles erzähle, Asher. Und davon lasse ich auch nicht ab. Sie hat es verdient, Bescheid zu wissen.«
Er nickte ernst. »Technisch gesehen bedeutet ›heute‹ nach Sonnenaufgang, und dann wird Luz bereits schlafen. Gib mir nur Zeit bis heute Abend. Wir können alle gemeinsam reingehen, dann stürmt Luz nicht blind los, ohne zu wissen, was sie so kurz vor Sonnenaufgang dort erwartet. Ich glaube nicht, dass er Adriana umbringen wird, wenn er sie noch für seine Zeremonie braucht.«
Glauben ist etwas anderes als wissen . Ich kaute auf meiner Wange herum. So oder so riskierten wir ein Menschenleben. Warum sollte es zwangsläufig Ashers sein? Und wer zum Teufel war ich, dass ich eine solche Entscheidung fällte?
Um meinem verwirrten Gewissen zu entgehen, fragte ich: »Warum hast du mir nicht früher gesagt, dass du du bist?«
Er schnaubte. »Du warst geächtet.«
Mit einer Geste schloss ich uns beide ein, bevor ich erwiderte: »Davon ist jetzt aber nicht sonderlich viel zu spüren.«
»Vergiss nicht: Du warst diejenige, die zu diesem Vorstellungsgespräch gegangen ist«, schoss er zurück. Er stand so dicht vor mir, dass ich problemlos sein Gesicht hätte streicheln können. »Als ich den Namen auf dem Lebenslauf gesehen habe, wusste ich nicht, was ich davon halten sollte. Und als du dann in meinem Büro aufgetaucht bist, habe ich mir alle Mühe gegeben, dich nicht einzustellen.«
»Dann war es also nur ein Vorwand, dass du mir den Job gegeben hast? Damit du vorsorglich neue Erinnerungen an mich sammeln konntest?«
»Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Vielleicht konnte ich einfach nicht loslassen.« Er lächelte reumütig. »Wären diese Gangmitglieder nicht gewesen, wärst du einfach aus der Tür spaziert. Aber als sie aufgetaucht sind, dachte ich mir, das könnte ein Zeichen sein. In Gefahrensituationen bist du nämlich echt nützlich – manchmal etwas waghalsig, aber du schreckst vor keiner Konfrontation zurück. Und wenn mir etwas zustößt, würdest du auch weiterhin in der Klinik arbeiten. Du bist der Typ, der im Zweifelsfall mit dem sinkenden Schiff untergeht.«
Ich trat mit den Fersen gegen den Wagen. »Wow, so viele Komplimente, ich werde gleich rot.«
»Es tut mir leid, Edie. Ich hätte es dir so gerne gesagt. Jeden Tag habe ich daran gedacht. Dabei zuzusehen, wie du verzweifelt nach Antworten gesucht hast, hat mir unglaublich wehgetan.« Er wirkte ernst, traurig und ausgelaugt. Auch wenn er mich so lange belogen hatte – jetzt war er einfach zu erschöpft, um mir irgendetwas anderes zu sagen als die Wahrheit. »Ich wollte dich einfach nicht in mein Elend mit reinziehen. Das würde ich niemandem wünschen.«
Wenn ich mich in dieser Nacht moralisch auf so dünnes Eis begeben sollte, brauchte ich gewisse Sicherheiten. »Von jetzt an will ich dabei sein. Du wirst keinen Schritt mehr ohne mich machen.«
Seine Miene hellte sich etwas auf. »Auf jeden Fall, ich will dich ja dabeihaben.« Er atmete tief durch und starrte mich an, als wäre es das letzte Mal. Für mich war es unvorstellbar, einfach so vergessen zu werden – oder gezwungen zu sein, alle Menschen zu vergessen, die ich kannte. »Dieses Leben«, erklärte er langsam, »in dem Bewusstsein, was mir bevorsteht … das war verdammt einsam.«
Ich nickte zustimmend. Meine Ächtung war schon übel gewesen, aber sein Schicksal war um einiges schlimmer. »Kannst du mich nach Hause fahren?«
Er schüttelte sich kurz, als müsste er erst in die Gegenwart zurückfinden, dann trat er zurück, damit ich von der Motorhaube springen konnte. »Natürlich.«
Kapitel 32
Es war still im Auto. Erst jetzt fiel mir auf, dass wir in einem uralten Nissan durch die Gegend fuhren. Aufmerksam beobachtete ich Ashers Gesicht im Innenspiegel und seine Hände – eine am Lenkrad, die andere auf dem Schaltknüppel zwischen uns. Um der alten Zeiten willen legte ich meine darüber und verschränkte unsere Finger. Wer konnte schon wissen, ob wir jemals neue Erinnerungen würden schaffen können? Er reagierte mit einem Nicken, sah mich aber nicht an.
»Warum eigentlich Hector?«, fragte
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