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Diagnose zur Daemmerung

Diagnose zur Daemmerung

Titel: Diagnose zur Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cassie Alexander
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Morgen gefahren war. In diesem Viertel gab es keine Betonblöcke. Nichts hier war jemals mit Blut oder Knochen in Kontakt gekommen.
    In mir breitete sich die Spannung aus, die ich während meiner Anfangszeit als Krankenschwester oft gespürt hatte, bei dem Versuch, zwei gegensätzliche Welten in meinem Kopf übereinzubringen. Einerseits das Umfeld, das ich mein Leben lang kannte, in dem man auf einer hübschen Couch saß und sich in den Nachrichten das Unglück ansah, das nur andere Menschen traf. Und eine Welt, in der Betrunkene einen verprügeln wollten und Menschen orange anliefen, weil ihre Leber versagte, weshalb sie sich vollschissen, bis sie irgendwann starben.
    Das war ein bisschen wie bei einem Gefängnisinsassen: War man einmal drin, konnte es draußen nie wieder so sein wie früher.
    »Edie!«, begrüßte mich meine Mom, als ich ins Wohnzimmer kam.
    »Hi, Mom.« Lächelnd beugte ich mich über sie und drückte sie an mich. Damit hatte ich das Portal durchschritten und war von meinem fremdartigen, brutalen Leben in diese Rückschau auf meine Vergangenheit übergewechselt: Fotos, Kinderzeichnungen, sorgfältig etikettierte Gläser mit Sand von diversen Urlaubsstränden.
    Meine Mutter freute sich. »Wie war dein Tag?«, wollte sie wissen und klopfte auffordernd neben sich auf die Couch.
    »Gut«, log ich, während ich mich setzte.
    Den Rest des Nachmittags verbrachte ich plaudernd mit meiner Mom. Sie schien kleiner zu sein, noch zerbrechlicher als bei dem Essen vor ein paar Tagen. Ich musste an die griechische Sage von Tithonos denken, der ewig lebte, dabei aber weiter alterte, sodass er irgendwann so sehr einschrumpfte, dass er nicht größer war als eine Grille. So weit war es bei meiner Mutter noch nicht, aber viel fehlte nicht mehr, falls der Krebs sie nicht vorher erwischte.
    »Weißt du, Edie, ich habe über deine Kindheit nachgedacht. Es tut mir leid, dass alles so schwierig für dich war …« Sie redete noch weiter, aber plötzlich konnte ich mich nicht mehr konzentrieren. O Gott. Dieses Gespräch? Das hatte ich bei der Arbeit oft mitgehört. Hatte mich irgendwie im Krankenzimmer beschäftigt, während es geführt wurde, oder direkt vor der Tür gesessen. Aber selbst hatte ich noch keines durchstehen müssen. Beichte und Vergebung, um die Dinge zu ordnen.
    »Ich habe wirklich keine Lust, diese alten Geschichten wieder aufzuwärmen«, platzte es lauter als gewollt aus mir heraus. Sie blinzelte verwirrt. »Du bist eine tolle Mom, und ich bin ein ziemlich gutes Kind, Ende.«
    »Aber …«
    Ich schüttelte den Kopf. »Kein Wort mehr.«
    Natürlich ließ sich der Tod nicht dadurch aufhalten, dass wir dieses Gespräch nicht führten, aber trotzdem war es für mich ein weiterer Schritt Richtung Unausweichlichkeit. Richtung Akzeptanz. Ohne Wiederkehr. Mir war völlig egal, was da gerade in ihr wucherte, ich hatte noch nicht aufgegeben.
    Im Gegensatz zu ihr.
    Sie schüttelte verwundert den Kopf, doch dann lächelte sie und tätschelte mir die Hand. Ihre Finger schienen nur noch aus Knochen zu bestehen, und ihre Haut war so bleich, dass sie durchscheinend wirkte. »Was macht denn dein neuer Job? Ist der Arzt dort attraktiv?«
    Das hatte sie mich bei jeder Krankenschwesternstelle gefragt, die ich jemals angetreten hatte. »O Mann.« Um sie zum Lachen zu bringen, verdrehte ich übertrieben genervt die Augen und grinste dann. »Okay, ja, ist er.«
    Meine Mutter kicherte triumphierend. »Erzähl mir von ihm.«
    »Okay.«
    So machten wir weiter, bis sie müde wurde: Redeten über harmlose Kleinigkeiten, streng bewacht vom besorgten Peter. Als sie ein Nickerchen machen wollte, verabschiedete ich mich. Peter umarmte mich sogar. Ich gab mir alle Mühe, die Geste aufrichtig zu erwidern.
    Auf der Fahrt nach Hause setzte der Regen erst richtig ein. Ich rannte von der Haltestelle bis zu meiner Wohnung, und kaum war ich drin, begann ich mit den Vorbereitungen für den Abend. Zur Ausrüstung gehörten unter anderem mein Gürtel mit der Silberschnalle und der silberne Armreif, den Asher mir zu Weihnachten geschenkt hatte – das schien schon eine Ewigkeit her zu sein. Außerdem holte ich wieder das Kruzifix von der Wand und stopfte es in meine Tasche. Dann ging mir auf, dass ich mich nicht mehr an den Weg zur Festung der Reina erinnerte. Ich holte mein Handy und wollte Asher gerade eine SMS schreiben, als es klopfte. Vielleicht konnte ich mir die Mühe sparen? Fröhlich ging ich zur Tür und schaute durch den Spion.
    Sobald

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