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Diamantene Kutsche

Diamantene Kutsche

Titel: Diamantene Kutsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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Wir beide machen jetzt einen Spaziergang durch Yokohama. Aber ziehen Sie sich vorher um.«
    »Mit dem größten Vergnügen.« Fandorin verbeugte sich. »Aber erst möchte ich, w-wenn Sie erlauben, eine Viertelstunde darauf verwenden, Mademoiselle Blagolepowa in den Gebrauch der Schreibmaschine einzuweisen.«
    »Gut. Ich hole Sie in einer halben Stunde ab.«
     
    Er traf Mademoiselle Blagolepowa auf dem Flur – sie schien auf ihn zu warten. Bei seinem Anblick wurde sie rot und preßte ein Buch an die Brust.
    »Hier, das habe ich im Garten vergessen«, stammelte sie, als wolle sie sich rechtfertigen. »Kanji Mitsuowitsch, Herr Shirota, hat es mir geliehen …«
    »Mögen Sie Puschkin?« fragte Fandorin nach einem Blick aufden Umschlag und überlegte, ob er noch einmal sein Beileid zum Tod ihres Vaters bekunden solle oder ob es damit genug war. Er entschied, daß es genug war – sonst brach sie wieder in Tränen aus.
    »Er schreibt nicht schlecht, nur sehr lang«, antwortete sie. »Wir haben Tatjanas Brief an ihren Angebeteten gelesen. Was für kühne Mädchen es gibt! Ich würde es nie im Leben wagen … Aber Gedichte mag ich schrecklich gern. Als Papa noch kein Opium geraucht hat, kamen uns oft Seeleute besuchen und schrieben Verse ins Gästebuch. Ein Billeteur vom ›Heiligen Pafnutij‹ schrieb sehr gemütvoll.«
    »Und was hat Ihnen am besten gefallen?« fragte Fandorin zerstreut. Das Mädchen senkte den Blick und flüsterte: »Das kann ich nicht wiederholen … Ich geniere mich. Ich schreibe es Ihnen auf und schicke es Ihnen, ja?«
    In diesem Augenblick schaute »Kanji Mitsuowitsch« zur Amtstubentür heraus. Er maß den Vizekonsul mit einem eigenartigen Blick, verbeugte sich höflich und meldete, das Gerät sei ausgepackt und aufgestellt.
    Fandorin führte das frischgebackene Schreibfräulein ins Büro, um sie mit der Errungenschaft des Fortschritts vertraut zu machen.
     
    Eine halbe Stunde später, erschöpft vom unbeholfenen Eifer der Schülerin, ging Fandorin sich für den Spaziergang umziehen. Gleich im Flur warf er die kurzen Stiefel ab und knöpfte Halbrock und Hemd auf, um Doronin, der jeden Augenblick erscheinen würde, nicht aufzuhalten.
    »Masa!« rief er, als er das Schlafzimmer betrat, und sah seinen Diener friedlich schlummernd auf dem Boden liegen, unter dem offenen Fenster. Über dem Schlafenden hockte ein kleiner japanischer Greis in Arbeitskleidung: graue Jacke, enge Baumwollhose und Strohsandalen über schwarzen Strümpfen.
    »Was ist hier …? Wer s-sind Sie …?« begann Fandorin, stocktejedoch. Erstens, weil ihm einfiel, daß der Fremde bestimmt kein Russisch verstand, und zweitens, weil ihn das merkwürdige Verhalten des Alten verblüffte.
    Der lächelte seelenruhig, das ganze Gesicht in freundliche Falten gelegt, barg die Hände in seinen breiten Ärmeln und verbeugte sich – auf dem Kopf trug er eine enganliegende Kappe.
    »Was ist mit Masa?« fragte Fandorin sinnloserweise und stürzte zu seinem behaglich schniefenden Kammerdiener.
    Er beugte sich über ihn – Masa schlief tatsächlich.
    Was für ein Unfug!
    »He, bleiben Sie stehen!« rief Fandorin dem Japaner zu, der zur Tür trippelte.
    Der Alte lief jedoch weiter, und Fandorin war in zwei Sprüngen bei ihm und packte ihn an der Schulter. Das heißt, er versuchte es. Der Japaner wich, ohne sich umzudrehen, leicht zur Seite aus, und Fandorin griff ins Leere.
    »Verehrter, ich v-verlange eine Erklärung«, sagte Fandorin, allmählich ärgerlich. »Wer sind Sie? Und was machen Sie hier?«
    Sein Ton und schließlich die Situation selbst dürften diese Fragen auch ohne Übersetzung verständlich machen.
    Als er begriff, daß man ihn nicht einfach gehen ließ, drehte der Alte sich zu Fandorin um. Er lächelte nicht mehr. Seine schwarzen, blanken Augen, die aussahen wie glühende Kohlen, beobachteten den Vizekonsul ruhig und aufmerksam, als müsse er eine schwierige, aber nicht allzu wichtige Aufgabe lösen. Dieser kaltblütige Blick brachte Fandorin endgültig in Rage.
    Ein teuflisch verdächtiger Asiat! Er war offenkundig in verbrecherischer Absicht ins Haus eingedrungen!
    Fandorin streckte die Hand aus, um den Dieb (oder Spion) am Kragen zu packen. Diesmal wich der Alte nicht aus, sondern stieß mit dem Ellbogen gegen Fandorins Handgelenk, ohne die Hände aus den Ärmeln zu nehmen.
    Der Schlag war leicht, fast schwerelos, doch Fandorins Hand wurde taub, verlor jegliche Empfindung und hing leblos herab – vermutlich hatte der Ellbogen

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