Diamantene Kutsche
Tochter gesagt: Er gehört nicht zu den Auserwählten. Das Große Wissen wirst du nicht erlangen, du mußt dich mit dem Kleinen begnügen. Ich werde tun, worum Midori mich bat. Du wirst zu mir kommen, und ich werde dir nach und nach alles beibringen, was in deinen Kräften steht. Genug, um in der Welt der Menschen des Westens als stark zu gelten. Bist du bereit zu lernen?«
»Für das Kleine Wissen – ja. Aber euer Großes Wissen brauche ich nicht.«
»Nun, sei es drum. Für den Anfang vergiß alles, was du gelernt hast. Auch das, was ich dich gelehrt habe. Beginnen wir mit der großen Kunst des Kiai: wie man seine geistige Ki-Energie konzentriert und steuert und dabei die Unerschütterlichkeit seines Shin wahrt, den die Menschen im Westen Seele nennen. Sieh mir in die Augen und hör mir zu.«
Vergiß Gelerntes.
Lerne von neuem lesen.
So sprach der Sensei.
P. S. Brief, geschrieben und verbrannt vom Arrestanten »Akrobat« am 27. Mai 1905
Vater,
es ist merkwürdig für mich, Sie so zu nennen, bin ich doch von Jugend an gewohnt, den Mann »Vater« zu nennen, in dessen Haus ich aufwuchs.
Ich habe Sie heute angesehen und mich erinnert, was mir mein Großvater, meine Mutter und meine Pflegeeltern von Ihnen erzählten.
Mein Weg ist zu Ende. Ich war meinem WEG treu und bin ihn so gegangen, wie man es mich gelehrt hat, bemüht, nicht zu zweifeln. Es ist mir gleichgültig, wie dieser Krieg endet. Ich kämpfte nicht gegen Ihr Land, ich überwand Hindernisse, die das Schicksal zu meiner Prüfung auf dem WEG meiner Kutsche auftürmte. Als schwierigste Prüfung erwies sich diejenige, die dazu angetan war, mein Herz zu erweichen, aber ich habe auch sie bestanden.
Diesen Brief schreibe ich nicht aus Sentimentalität, ich erfülle damit die Bitte meiner verstorbenen Mutter.
Sie sagte einmal zu mir: »Buddhas Welt ist voller Wunder, und es kann geschehen, daß du eines Tages deinem Vater begegnest. Sage ihm, ich wollte mich schön von ihm trennen, aber dein Großvater war unbeugsam: ›Wenn du willst, daß dein Gaijin am Leben bleibt, erfülle meinen Willen. Er muß dich tot und verunstaltet sehen. Erst dann wird er tun, was nötig ist.‹ Ich habe getan, was er mir befahl, und das hat mich mein Leben lang gequält.«
Ich kenne die Geschichte, ich habe sie viele Male gehört – wie meine
Mutter vor der Explosion in ein Geheimversteck kroch; wie Großvater sie aus den Trümmern zog; wie sie auf dem Bestattungsfeuer lag, das Gesicht zur Hälfte mit schwarzem Lehm beschmiert.
Ich weiß nur nicht, was der Satz bedeutet, den meine Mutter mich Ihnen zu übermitteln bat, sollte ein Wunder geschehen und wir uns begegnen.
Er lautet: YOU CAN LOVE.
Informationen zum Buch
1905: Rußland hat gerade eine entscheidende Niederlage im Krieg gegen Japan einstecken müssen, da fliegt auf der Stecke Moskau-Petersburg eine Brücke in die Luft. Fandorin, Hauptingenieur beim Verkehrsministerium und als solcher verantwortlich für die Sicherheit auf den Bahnstrecken, vermutet sofort einen Sprengstoffanschlag. Die heiße Spur führt ihn jedoch in die Irre. Wer steckt wirklich hinter diesem Sabotageakt? Und wird es ihm gelingen, auch einen Anschlag auf die Transsib zu verüben und so den Nachschub zu den russischen Truppen in der Mandschurei auf Wochen lahmzulegen? Fandorin und seine Leute sind in höchster Alarmbereitschaft und ersinnen die originellsten Methoden, um das zu verhindern. Doch auch der unsichtbare Gegner ist überaus raffiniert und konfrontiert Fandorin auf geheimnisvolle Weise mit seiner Zeit 1878 als Vizekonsul in Japan.
Informationen zum Autor
BORIS AKUNIN ist das Pseudonym des Moskauer Philologen, Kritikers, Essayisten und Übersetzers aus dem Japanischen Grigori Tschchartischwili (geb. 1956). 1998 veröffentlichte er seine ersten Kriminalromane, die ihn in kürzester Zeit zu einem der meistgelesenen Autoren in Rußland machten. Heute genießt er in seiner Heimat geradezu legendäre Popularität. 2001 wurde er dort zum Schriftsteller des Jahres gekürt, seine Bücher wurden bereits in 17 Sprachen übersetzt, weltweit wurden etwa 6 Millionen davon verkauft. Mit seiner »Fandorin«-Serie erlangte er auch in Deutschland Kultstatus.
Bei AtV erschienen: Fandorin (2001), Türkisches Gambit (2001), Mord auf der Leviathan (2002), Der Tod des Achilles (2002), Russisches Poker (2003), Die Schönheit der toten Mädchen (2003), Der Tote im Salonwagen (2004), Die Entführung des Großfürsten (2004), Der Magier von Moskau
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