Diamantene Kutsche
Fandorin wickelte ebenfalls ein Päckchen aus – es enthielt einen Spiegel. »Der lag auf dem Fensterbrett. Bei seinem Salto hat mein geheimnisvoller B-besucher die Oberfläche mit der Hand berührt.«
»Was soll der Quatsch?« knurrte Lockstone, als Twiggs die Abdrücke durch eine Lupe betrachtete.
»Derselbe Daumen!« verkündete der Doktor triumphierend. »Der gleiche Abdruck wie auf dem Zelluloidkragen. Delta, Windungen, Abzweigungen – alles stimmt überein!«
»Was ist das? Was ist das?« fragte Asagawa rasch und rückte näher. »Eine Neuheit der polizeilichen Wissenschaft?«
Twiggs erklärte es mit Vergnügen.
»Vorerst nur eine Hypothese, aber bereits ausreichend belegt. Mein Kollege Doktor Folds aus dem Hospital Tsukiji schreibt einen wissenschaftlichen Aufsatz darüber. Sehen Sie, Gentlemen, das Muster auf den Fingerspitzen ist einzigartig und unwiederholbar. Zwei Menschen mögen sich gleichen wie ein Ei dem anderen, aber es gibt keine zwei völlig identischen Fingerabdrücke. Das wußte man schon im alten China. Anstelle einer Unterschrift setzten die Arbeiter ihren Daumenabdruck unter einen Vertrag – ein solcher Stempel läßt sich nicht fälschen.«
Der Sergeant und der Inspektor lauschten mit offenem Mund, und der Doktor erging sich immer weiter in historischen und anatomischen Einzelheiten.
»Was für eine großartige Sache – der Fortschritt!« rief der sonst so zurückhaltende Asagawa. »Es gibt kein Rätsel, das er nicht lösen kann!«
Fandorin seufzte.
»Doch. Wie läßt sich vom Standpunkt des Fortschritts erklären, was unser f-fixer Greis macht? Verzögerte Tötung, Versenkung in Lethargie, zeitweilige Lähmung, eine Viper im Ärmel … Absolut mystisch!«
Asagawa und Twiggs wechselten einen Blick.
»Shinobi«, sagte der Inspektor.
Der Doktor nickte. »An die dachte ich auch, als ich von der Mamushi im Ärmel hörte.«
Welch große Weisheit;
Welche Rätsel birgt in sich
Der Mamushi Herz.
Neujahrsschnee
»Eins ihrer klassischen Kunststücke. Wenn ich nicht irre, nennt man es Mamushi-gama, ›Schlangensense‹, nicht wahr?« fragte Twiggs den Japaner. »Erzählen Sie dem Herrn Vizekonsul davon.«
Asagawa antwortete respektvoll: »Tun Sie das lieber, Sensei. Ich bin sicher, Sie sind viel belesener als ich und kennen zu meiner Schande die Geschichte meines Landes besser.«
»Wer sind denn diese Shinobi?« rief Lockstone ungeduldig. »Die Schattenkrieger«, erklärte der Doktor und nahm das Gespräch nun endgültig in die Hand. »Eine Kaste von Kundschaftern und gedungenen Mördern – die besten der Weltgeschichte. Die Japaner lieben es ja, jede Kunst zur Vollkommenheit zu führen, und erzielen höchste Erbgebnisse im Guten wie im Schlechten. Man nannte diese halbmystischen Mantel-und-Degen-Ritter auch Rappa, Suppa oder Ninja.«
»Ninja?« wiederholte Fandorin, der sich erinnerte, dieses Wortvon Doronin schon gehört zu haben. »Reden Sie weiter, Doktor!«
»Über die Ninja werden wahre Wunderdinge berichtet. Sie können sich angeblich in Kröten, Vögel und Schlangen verwandeln, von hohen Mauern springen, übers Wasser laufen und so weiter und so weiter. Das sind natürlich im wesentlichen Märchen, zum Teil von den Shinobi selbst erdichtet, aber manches ist auch wahr. Ich habe mich für ihre Geschichte interessiert, habe Traktate von berühmten Meistern des Ninjutsu, der ›verborgenen Kunst‹, gelesen und kann bestätigen: Ja, sie sprangen von einer senkrechten Wand von bis zu zwanzig Yard Höhe; mittels spezieller Vorrichtungen konnten sie über Sümpfe laufen; sie überquerten Gräben und Flüsse, indem sie über den Grund liefen, und sie beherrschten noch viele andere wahrhaft phantastische Dinge. Diese Kaste hatte ihre eigene Moral, die aus der Sicht der übrigen Menschheit ungeheuerlich anmutet. Grausamkeit, Verrat und Betrug galten bei ihnen als höchste Tugenden. Es gab sogar eine Redewendung: ›hinterhältig wie ein Ninja.‹ Sie verdienten sich ihren Lebensunterhalt mit Auftragsmorden. Das war sehr teuer, aber dafür konnte man sich auf die Ninja verlassen. Wenn sie einen Auftrag übernahmen, ließen sie nicht ab von ihrem Ziel, selbst wenn es sie das Leben kostete. Und sie erreichten es immer. Der Kodex der Shinobi ermutigte zu Vertrauensbruch, aber nie gegenüber einem Auftraggeber, und das wußte jeder.
Sie lebten in gesonderten Gemeinschaften. Von der Wiege an wurden sie auf ihr künftiges Handwerk vorbereitet. Ich werde Ihnen eine Geschichte
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