Diamantene Kutsche
sind.«
Dieses Argument überzeugte Fandorin nicht ganz, aber er widersprach nicht.
»Übrigens, ich vermisse Ihren Dank dafür, daß ich Ihnen das Leben gerettet habe«, sagte der Konsul scheinbar gekränkt.
»Danke.«
»Keine Ursache. Gehen wir weiter. Nach der mißlungenen Nummer mit dem giftigen Reptil erfährt der Gesichtslose irgendwie, daß die Ermittler noch ein weiteres seltsames, unglaubliches Indiz besitzen – seine Fingerabdrücke. Im Gegensatz zu Bucharzew und, ich gestehe es, auch zu Eurem ergebenen Diener, nahm der Gesichtslose diesen Umstand durchaus ernst. Ich ahne auch, warum. Sie haben doch eine Beschreibung des Mannes, den Masa im ›Rakuen‹ gesehen hat?«
»Ja.«
»Trifft die auf Ihren ungebetenen Gast zu?«
»Kaum. Nur die Größe – etwas über zwei Arschin – und die Hagerkeit. Doch ein solcher Körperbau ist in Japan keine Seltenheit. Aber alles andere … Masa hat einen gebrechlichen Greis gesehen, gebeugt, mit zittrigem Kopf und Pigmentflecken im Gesicht. Mein Alter d-dagegen war durchaus frisch und munter. Ich schätze ihn auf höchstens sechzig.«
»Eben!« Der Konsul hob den Zeigefinger. »Von den Ninja ist bekannt, daß sie Meister darin sind, ihr Äußeres zu verändern. Doch wenn die Theorie von Mister Folds stimmt, kann man seine Fingerabdrücke nicht verändern. Die Übereinstimmung der Abdrücke auf dem Kragen und auf dem Spiegel bestätigt das. Jedenfalls entschloß sich der Gesichtslose zu einem unglaublich kühnen Schritt – er vernichtete die Indizien direkt im Büro des Polizeichefs. Er versuchte zu entkommen, schaffte es aber nicht. Interessant ist, was er vor seinem Tod sagte: ›Kongojo‹.«
»Habe ich das richtig behalten?«
»Ja. Kongojo heißt ›Diamantene Kutsche‹.«
»Was?« fragte Fandorin verblüfft. »Was bedeutet das?«
»Wir haben jetzt keine Zeit für einen ausführlichen Vortrag über den Buddhismus, darum erkläre ich es Ihnen kurz und vereinfacht. Im Buddhismus existieren zwei Hauptlinien, die sogenannten Kutschen. Jeder, der zu Freiheit und Licht strebt, kann wählen, in welche der beiden er steigt. Die Kleine Kutsche nimmt den Weg, der zur Rettung lediglich der eigenen Seele führt. Die Große Kutsche ist für den, der die ganze Menschheit retten will. Der Anhänger des Kleinen Pfades strebt nach dem Status des Archat, des absolut freien Wesens. Der Anhänger des Großen Pfades kann zum Bodhisattva werden, zum idealen Wesen, das durchdrungen ist vom Mitgefühl für alles Existierende und keine Freiheit erlangen will, bevor auch alle anderen frei sind.«
»Mir gefallen die B-bodhisattva besser«, bemerkte Fandorin.
Doronin lächelte.
»Weil sie der christlichen Idee der Selbstaufopferung näherstehen. Ich bin ein Misanthrop und wäre lieber ein Archat. Ich fürchte nur, ich bin nicht würdig genug.«
»Und was ist die Diamantene Kutsche?«
»Das ist ein ganz eigener Zweig des Buddhismus, ziemlich verworren und voller Geheimnisse. Uneingeweihte wissen darüberkaum etwas. Nach dieser Lehre kann ein Mensch Erleuchtung erlangen und noch zu Lebzeiten Buddha werden, doch das verlangt eine ganz besondere Festigkeit im Glauben. Darum auch Diamantene Kutsche – es gibt in der Natur nichts Härteres als den Diamanten.«
»Das verstehe ich absolut nicht«, sagte Fandorin nach kurzem Überlegen. »Wie kann man Erleuchtung erlangen und Buddha werden, wenn man Morde und G-gemeinheiten begeht?«
»Na, das ist doch wohl kein Problem. Begehen unsere Frömmler nicht jede Menge Böses, und das alles im Namen Christi und der Seelenrettung? An der Lehre liegt es nicht. Ich kenne Mönche der Shingon-Sekte, die den Pfad der Diamantenen Kutsche predigen. Sie streben still für sich nach Erleuchtung und stören niemanden. Sie lassen keine Fremden zu sich, interessieren sich aber auch ihrerseits nicht für fremde Angelegenheiten. Und dabei sind sie keineswegs Fanatiker. Schwer vorstellbar, daß einer von ihnen sich mit dem Ruf ›Kongojo!‹ das Gesicht abschneidet. Vor allem habe ich noch nie gehört, daß diese Formel eine magische Bedeutung hätte. Sehen Sie, im japanischen Buddhismus glaubt man, daß bestimmte Sutren oder Floskeln magische Kräfte besitzen. Zum Beispiel die heilige Beschwörung ›Nomu Amida Butsu‹ oder das Lotos-Sutra ›Namu moho rengeko‹. Die Mönche wiederholen sie Tausende Male und glauben, daß sie so auf dem Pfad Buddhas vorankommen. Wahrscheinlich stammt der Ruf ›Kongojo!‹ von irgendeiner fanatischen Sekte …«
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