Diamantene Kutsche
Doronin breitete die Arme aus. »Tja, in dieser Materie finden wir Europäer uns nicht zurecht. Kommen wir lieber zum Gesichtslosen zurück, ehe wir uns noch im Dickicht des Buddhismus verirren. Überprüfen wir die logische Abfolge der Ereignisse. Frage: Warum wurde Kapitän Blagolepow getötet? Antwort: Weil er jedem von seinen nächtlichen Passagieren erzählt hatte. Einen anderen Grund, einem derart unbedeutenden Menschen einen Meister im raffinierten Töten zu schicken, gab es wohl kaum. Richtig?«
»Richtig.«
»Der Gesichtslose ist ein Ninja, und diese werden, wie wir aus der Geschichte wissen, für Geld gedungen. Eine andere Frage ist, woher im Jahre 1878 ein Ninja kommt – das werden wir nun womöglich nie mehr erfahren. Aber da dieser Mann offenbar beschlossen hatte, nach den Gesetzen dieser Sekte zu leben und zu sterben, verdiente er sich seinen Lebensunterhalt vermutlich auf die überlieferte Weise. Mit anderen Worten, er wurde gedungen. Frage: Von wem? Antwort: Unbekannt. Frage: Wozu wurde er gedungen?«
»Um die drei Samurai aus Satsuma zu schützen und zu bewachen?« schlug Fandorin vor.
»Höchstwahrscheinlich. Einen solchen Meister anzuheuern kostet bestimmt eine Menge Geld. Woher sollten die ehemaligen Samurai das haben? Also gibt es hinter den Kulissen weitere Mitspieler, die mit ihren Einsätzen die Bank sprengen können. Die Bank ist uns bekannt – Minister Okubo. Das alles werde ich in meinen Bericht an den Gesandten schreiben. Und ergänzen, daß Anführer, Verbindungsmann oder Komplize der Täter aus Satsuma der Inhaber eines Spielsalons ist. Er wird von der japanischen Polizei überwacht und ist bis jetzt unser einziger Anhaltspunkt. Was sagen Sie, Fandorin? Habe ich bei meiner Analyse etwas vergessen?«
»Die Analyse ist sehr gut«, bestätigte Fandorin.
»Merci.« Der Konsul hob seine dunkle Brille und rieb sich müde die Augen. »Aber die Obrigkeit schätzt mich nicht so sehr wegen meiner Fähigkeit zum Analysieren, sondern weil ich Lösungen vorschlage. Was also schreibe ich in den resümierenden Teil des Berichts?«
»Schlußfolgerungen.« Auch Fandorin trat ans Fenster und schaute zu, wie die Akazienblätter im Regen auf und ab wippten. »Insgesamt vier. Die Verschwörer haben einen Agenten in Polizeikreisen. Erstens.«
Doronin zuckte zusammen.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Aus den Fakten. Erst erfuhr der Mörder, daß ich einen Zeugen für den Mord an Blagolepow habe. Dann hat jemand die Satsumaer vor dem Hinterhalt im G-godaún gewarnt. Und schließlich wußte der Ninja von den Fingerabdrücken und davon, wo sie aufbewahrt wurden. Das läßt nur einen Schluß zu: Jemand aus meiner Gruppe oder eine Person, die über den Verlauf der Ermittlungen informiert ist, hat Verbindung zu den Verschwörern.«
»Jemand wie ich zum Beispiel?«
»Zum Beispiel jemand wie Sie.«
Der Konsul runzelte die Brauen und schwieg.
»Gut, die erste Schlußfolgerung ist klar. Weiter.«
»Der Bucklige weiß zweifellos, daß er unter Beobachtung steht, und wird auf keinen Fall Verbindung mit den Satsumaern aufnehmen – zweitens. Folglich muß der Bucklige zum Handeln gezwungen werden – drittens. Aber damit nicht wieder Informationen durchsickern, muß die Operation ohne das Wissen der munizipalen und auch der japanischen Polizei durchgeführt werden – viertens. D-das ist alles.«
Doronin überlegte und schüttelte skeptisch den Kopf.
»Das ist ja alles richtig. Aber was heißt ›zum Handeln zwingen‹? Wie stellen Sie sich das vor?«
»Semushi muß der Beobachtung entkommen. Dann wird er mit Sicherheit seine Komplizen aufsuchen. Und mich zu ihnen führen. Doch für diese Operation brauche ich die Befugnis zu eigenständigen Aktionen.«
»Die da wären?«
»Das weiß ich noch nicht«, antwortete Fandorin gleichgültig. »Je nach N-notwendigkeit.«
»Sie wollen es mir nicht sagen?« begriff Doronin. »Richtig so. Sonst mißlingt Ihre Operation, und Sie halten mich für einen Spion.« Er trommelte mit den Fingern gegen die Fensterscheibe. »Wissen Sie was, Erast Petrowitsch? Um der Reinheit des Versuchswillen werde ich auch dem Gesandten nichts von Ihren Schlußfolgerungen schreiben. Und was die Befugnis angeht, gehen Sie davon aus, daß Ihr unmittelbarer Vorgesetzter sie Ihnen erteilt hat. Handeln Sie, wie Sie es für richtig halten. Nur eins noch …« Der Konsul stockte. »Vielleicht könnten Sie mich, nein, nein, nicht einweihen, aber wenigstens praktisch beteiligen? Allein, ohne
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