Diamantene Kutsche
sein.«
Er hatte den größten Teil des Tages damit verbracht, den Shinobi beim Training zuzusehen, und dabei Dinge entdeckt, bei deren Anblick sein Gesicht eine dümmliche Verblüffung spiegelte, die ihm im normalen Leben ganz und gar nicht eigen war.
Zuerst hatte er Kinder beim Spielen beobachtet. Ein etwa sechsjähriger Junge dressierte mit erstaunlicher Geduld eine Maus – er lehrte sie, bis zu einem Schälchen und zurück zu laufen. Jedesmal, wenn die Maus die Aufgabe bewältigt hatte, rückte er das Schälchen ein Stück weiter weg.
»In einigen Monaten wird die Maus vier-, ja fünfhundert Yard zurücklegen können. Dann kann man sie zum Überbringen geheimer Nachrichten einsetzen«, erklärte ein Ninja mit Namen Rakuda, den Tamba dem Vizekonsul zur Seite gestellt hatte.
»Rakuda« hieß »Kamel«, doch der Shinobi glich keineswegs einem Kamel. Er war ein Mann in mittleren Jahren mit rundlichem, überaus gutmütigem Gesicht, das suggerierte: Er tut keiner Fliege was zuleide. Er sprach ausgezeichnet Englisch und war wohl deshalb zu Fandorins Begleiter bestimmt worden. Er forderte Fandorin auf, ihn »Jonathan« zu nennen, doch diesem gefiel der klangvolle Name »Rakuda« besser.
Zwei Mädchen spielten Beerdigung. Sie gruben eine Grube, ein Mädchen legte sich hinein, das andere bedeckte sie mit Erde.
»Wird sie nicht ersticken?« fragte Fandorin besorgt. Rakuda wies leise lachend auf einen Strohhalm, der aus dem »Grab« ragte.
»Nein, sie lernen, mit einem Viertel Lungenkraft zu atmen, das ist sehr nützlich.«
Am meisten aber interessierte Fandorin natürlich der achtjährige Yaiti, den Tamba zu seinem Nachfolger machen wollte.
Der magere Junge – äußerlich keineswegs bemerkenswert – kletterte eine Hauswand empor. Rutschte ab, schrammte sich blutig und versuchte es erneut.
Unglaublich! Es war eine Bretterwand, es gab nichts, woran man sich hätte festhalten können, doch Yaiti krallte sich mit den Fingernägeln ins Holz, zog sich hoch und gelangte so schließlich aufs Dach. Er setzte sich hin, baumelte mit den Beinen und streckte Fandorin die Zunge heraus.
»Das ist ja Zauberei!« rief dieser.
»Nein, keine Zauberei. Kaketsume«, sagte Rakuda und winkte den Jungen heran.
Der Junge sprang ohne Umstände vom zwei Sashen hohen Dach herunter und zeigte Fandorin seine Hände. Er trug eiserne Fingerhüte mit gebogenen Krallen. Fandorin versuchte, mit ihrer Hilfe die Wand emporzuklettern – vergebens. Wieviel Kraft mußte man in den Fingerspitzen haben, um damit sein Körpergewicht zu halten!
»Komm, komm«, rief Rakuda. »Etsuko wird gleich einen Daijin töten. Mal sehen, ob sie es diesmal schafft.«
»Was ist ein Daijin?« fragte Fandorin, während er seinem Begleiter in eines der Häuser folgte.
In einem großen leeren Raum befanden sich vier Personen: zwei Männer, ein Mädchen mit breiten Wangenknochen, und ein Stück abseits saß jemand in Kaftan und mit Schirmmütze an der Wand.Bei genauerem Hinsehen erwies sich dieser als Puppe: lebensgroß, mit aufgemaltem Gesicht und üppigem angeklebtem Schnurrbart.
»Daijin heißt ›großer Mann‹«, erklärte Rakuda flüsternd. »Etsuko muß ihn töten, und Gohei und Tanshin sind seine Leibwächter. Das ist eine Prüfung. Man muß sie bestehen, um zur nächsten Stufe der Ausbildung aufzusteigen. Etsuko hat es schon zweimal versucht.«
»Eine Art Examen also?« fragte Fandorin und verfolgte das Geschehen aufmerksam.
Der pockennarbige Gohei und der mürrische, rotgesichtige Tanshin durchsuchten das Mädchen gründlich. Sie spielte offenbar eine Bittstellerin, die bei dem »großen Mann« vorsprechen wollte.
Die Durchsuchung war so gründlich, daß Fandorin errötete. Nicht genug, daß die »Bittstellerin« nackt ausgezogen wurde, die Männer tasteten auch sämtliche Körperöffnungen ab. Die blutjunge Etsuko spielte gewissenhaft ihre Rolle: Sie bückte sich demütig, kicherte verlegen und drehte sich hin und her. Die »Leibwächter« durchsuchten ihre Kleider, ihre Sandalen und ihren breiten Gürtel. Eine Tabakspfeife, die in einem Ärmel steckte, nahmen sie heraus. Im Gürtel fanden sie ein handgenähtes Säckchen mit Hashi, hölzernen Eßstäbchen, und eine Nephritbrosche. Die Stäbchen gaben sie ihr zurück, die Brosche, die sie in der Hand drehten und wendeten, behielten sie vorsichtshalber. Dann verlangten sie, das Mädchen solle sein Haar lösen, und zogen zwei spitze Haarnadeln heraus. Erst dann durfte sie sich wieder anziehen und zum
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