Diamantene Kutsche
Wand. Geh vorwärts, bis du vor einer Tür stehst. Öffne sie und mache drei große Schritte vorwärts. Dann öffne die Augen.«
Mehr sagte sie nicht.
Er stand auf und wollte sein Hemd anziehen.
»Nein, du mußt völlig unbekleidet sein.«
Er stieg die an der Wand befestigte Leiter hinauf. Mit geschlossenen Augen.
Er lief langsam den Flur entlang, stieß auf eine Tür.
Er öffnete sie – und spürte nächtliche Kälte auf der Haut.
Das ist die Tür, hinter der der Abgrund liegt, begriff er und erstarrte auf der Schwelle.
Drei große Schritte? Wie groß? Wie lang war der Steg? Einen Sashen, höchstens.
Er tat einen Schritt, noch einen, bemüht, nicht zu kurz auszuschreiten. Vor dem dritten stockte er. Wenn er nun beim dritten Schritt ins Leere trat?
Der Abgrund war ganz nahe, er spürte seinen bodenlosen Hauch.
Er überwand sich und tat noch einen Schritt – genauso lang wie die vorigen. Seine Zehen fühlten den gerippten Rand. Noch einen halben Werschok, und …
Er öffnete die Augen – und sah nichts.
Keinen Mond, keine Sterne, keine Lichter unter sich. Die Welt war zu einem Ganzen verschmolzen, es gab keinen Himmel mehr und keine Erde, kein Oben und kein Unten. Nur einen einzigen Punkt und das Sein darum herum.
Dieser Punkt befand sich in Fandorins Brust und sandte ein Signal nach außen, ein Signal voller Leben und Geheimnis: poch-poch, poch-poch, poch-poch.
Die Sonne scheidet,
Dunkelheit vereint alles.
Nachts ist die Welt eins.
Verschütteter Sake
Tamba sagte: »Man muß fallen, wie eine Kiefernnadel zu Boden fällt – lautlos und weich. Du aber stürzt wie ein gefällter Baum. Moo ikkai. 1 «
Fandorin stellte sich eine Kiefer vor, ihre nadelbewachsenenZweige; nun löste sich eine Nadel, fiel kreiselnd zu Boden und landete weich im Gras. Er sprang hoch, drehte sich in der Luft und schlug bäuchlings auf.
»Moo ikkai.«
Eine Nadel nach der anderen fiel ab, der Zweig war schon fast kahl, Fandorin mußte sich einen nächsten denken, aber nach jedem Fall folgte stets: »Moo ikkai.«
Fandorin holte sich folgsam blaue Flecke, aber am meisten lag ihm daran, sich prügeln zu lernen – wenn schon nicht wie Tamba, so doch wenigstens wie die unvergeßliche Neko-chan. Doch der Jonin hatte keine Eile, er beschränkte sich vorerst auf die Theorie. Er sagte, zunächst müsse Fandorin jedes der drei Kampfprinzipien für sich lernen: Nagare – Fließen, Henkan – Biegsamkeit, und das Schwerste von allen, Rinki-ohen – die Fähigkeit, sich durch Improvisation auf den Gegner einzustellen.
Am nützlichsten fand Fandorin die Informationen über die Schläge auf lebenswichtige Punkte. Dabei konnte man sich, ehe man sich die schwer auszusprechenden und schwer zu begreifenden Ninjutsu-Prinzipien angeeignet hatte, auch mit den Fertigkeiten im englischen Boxen oder im französischen Savate behelfen.
Fandorins Heft füllte sich mit Zeichnungen von Körperteilen, versehen mit Pfeilen verschiedener Dicke, je nach Intensität des Schlages, und rätselhaften Kommentaren wie: »Soda (6. Wirb.) – zeitw. Lähmung: nicht zu stark! Sonst sof. Tod.« Oder: »Wanshun (Trizeps) – zeitw. Armlähmung: nicht zu stark, sonst Bruch.«
Am schwierigsten waren die Atemübungen. Tamba schnürte seinem Schüler einen Riemen ganz fest um die Taille, und dann mußte dieser zweitausendmal einatmen – so tief, daß sich der Unterbauch blähte. Von dieser scheinbar simplen Übung schmerzten die Muskeln derartig, daß Fandorin am ersten Tag zusammengekrümmt insein Zimmer kroch und fürchtete, Midori diese Nacht nicht lieben zu können.
Aber er konnte.
Sie rieb ihm die blauen Flecke und Schrammen mit einer Heilsalbe ein und zeigte ihm dann, wie man Schmerz und Müdigkeit mit Hilfe von Ketsuin behob, einer magischen Fingerübung. Unter ihrer Anleitung drehte Fandorin eine Viertelstunde lang seine Finger und verschlang sie zu bizarren Verknotungen, und danach war seine Erschöpfung wie weggeblasen, sein Körper erfüllt von neuer Kraft und Energie.
Am Tag sahen die sich Liebenden nicht – Fandorin lernte die Kunst des richtigen Fallens und der richtigen Atmung, Midori war mit eigenen Angelegenheiten beschäftigt –, die Nächte aber gehörten ganz ihnen beiden.
Fandorin lernte mit zwei Stunden Erholung auszukommen. Wenn man die Kunst des richtigen Schlafs beherrschte, reichte das zur Regenerierung der Kräfte vollkommen aus.
Entsprechend der weisen Jojutsu-Kunst war keine Nacht wie die andere, jede hatte einen
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