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Diamantene Kutsche

Diamantene Kutsche

Titel: Diamantene Kutsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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eigenen Namen: »Kranichschrei«, »Goldene Kette«, »Füchsin und Dachs«. Midori erklärte, Eintönigkeit sei tödlich für die Leidenschaft.
    Früher war Fandorins Leben überwiegend weiß getönt gewesen, in der Farbe des Tages. Nun jedoch, da sich seine Schlafenszeit so sehr verkürzt hatte, war sie zweifarbig – weiß und schwarz. Die Nacht war vom Hintergrund, von der bloßen Kulisse des wirklichen Lebens zu dessen vollwertigem Bestandteil geworden, und das war ein bedeutender Gewinn.
    Zwischen Sonnenuntergang und Morgengrauen hatte vieles Raum: Erholung, Leidenschaft, leise Gespräche, ja selbst ausgelassenes Toben – sie waren schließlich beide noch sehr jung.
    Einmal stritten sie zum Beispiel, wer schneller sei: Midori zu Fuß oder Fandorin auf dem Fahrrad.
    Sie kletterten extra hinüber auf die andere Seite der Schlucht, wo das Royal Crescent Tricycle auf seinen Besitzer wartete, stiegen zum Fuß des Berges hinunter und veranstalteten ein Wettrennen.
    Anfangs lag Fandorin vorn, aber nach einer halben Stunde wurde er müde, drosselte sein Tempo, und Midori holte auf. Sie lief mühelos, gleichmäßig, ohne zu keuchen. Nach neun Werst überholte sie den Radfahrer, und der Abstand zwischen ihnen wuchs stetig.
    Erst jetzt begriff Fandorin, wie Midori es geschafft hatte, in einer Nacht das Heilkraut vom Berg Tanjawa nach Yokohama zu bringen. Sie war die fünfzehn Ri hin und zurück gelaufen. Hundert Werst! Und in der nächsten Nacht noch einmal! Darum hatte sie so gelacht, als er das erschöpfte Pferd bedauerte.
    Einmal lenkte er das Gespräch auf die Zukunft, bekam aber zur Antwort: »In der japanischen Sprache gibt es keine Zukunft, nur Vergangenheit und Gegenwart.«
    »Aber etwas wird doch mit uns geschehen, mit dir und mit mir«, beharrte Fandorin.
    »Ja«, entgegnete sie ernst. »Aber ich habe noch nicht entschieden, was genau: ›Herbstblatt‹ oder ›Süße Träne‹. Beide Abschiede haben ihre Vorzüge.«
    Er versteinerte. Und sprach nicht mehr von der Zukunft.
     
    Am Abend des vierten Tages sagte Midori: »Heute werden wir uns nicht berühren. Wir werden Sake trinken und über das Schöne reden.«
    »Was heißt das – nicht berühren?« fragte Fandorin aufgeregt. »Du hast mir doch das ›Silberne Spinnennetz‹ versprochen!«
    »Das ›Silberne Spinnennetz‹ ist eine Nacht, die man in erlesenem, gefühlvollem Gespräch verbringt, um seine Seelen mit unsichtbaren Fäden zu verknüpfen. Je fester dieses Netz, desto länger hält es die Motte der Liebe fest.«
    Fandorin versuchte zu protestieren: »Ich will kein Spinnennetz, die Motte fliegt auch so nicht weg! Spielen wir lieber Füchsin und Dachs, wie gestern!«
    »Die Leidenschaft duldet keine Wiederholung und braucht manchmal eine Atempause«, sagte Midori belehrend.
    »Meine nicht!«
    Sie stampfte mit dem Fuß auf.
    »Wer von uns beiden ist der Jojutsu-Lehrer, du oder ich?«
    »Ich bin von lauter Lehrern umgeben. Das ist doch kein Leben«, knurrte Fandorin und kapitulierte. »Na schön. Und was ist das Schöne, über das wir heute die ganze Nacht reden werden?«
    »Zum Beispiel die Poesie. Welches poetische Werk liebst du am meisten?«
    Fandorin überlegte, und Midori stellte einen Krug Sake auf den Tisch und setzte sich mit gekreuzten Beinen.
    »Na ja, ich weiß nicht …«, sagte er gedehnt. »Ich mag ›Eugen Onegin‹. Ein Werk des russischen Dichters P-puschkin.«
    »Trag es mir vor! Mit Übersetzung.«
    Sie legte die Ellbogen auf die Knie, bereit zuzuhören.
    »Ich kann es nicht auswendig. Es hat mehrere Tausend Zeilen.«
    »Wie kann man ein Gedicht lieben, das mehrere Tausend Zeilen hat? Und warum so viele? Wenn ein Dichter so lang schreibt, heißt das, er hat nichts zu sagen.«
    Beleidigt für den großen russischen Dichter, fragte Fandorin ironisch: »Wie viele Zeilen hat denn dein Lieblingsgedicht?«
    »Drei«, antwortete sie ernst. »Dreizeiler, Haiku, liebe ich am meisten. Sie sagen so wenig und zugleich so viel. Jedes Wort steht an seinem Platz, kein einziges ist überflüssig. Ich bin sicher, die Bodhisattva 2 reden miteinander in Haiku.«
    »Trag es mir vor«, bat Fandorin, neugierig geworden. »Bitte!«
    Mit halbgeschlossenen Augen deklamierte sie im Singsang:
     
    »Mein lieber kleiner
    Libellenfänger, so weit
    Liefst du heute fort.«
     
    »Das ist schön«, bestätigte Fandorin. »Aber ich habe nichts verstanden. Was für ein Libellenfänger? Wohin ist er gelaufen? Und warum?«
    Midori schloß die Augen und sagte

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