Diamantene Kutsche
verträumt: »Doko made itta yara … Das ist wunderschön! Um ein Haiku wirklich zu verstehen, muß man über ein besonderes Gespür und Wissen verfügen. Wenn du wüßtest, daß die berühmte Dichterin Chiyo dieses Gedicht auf den Tod ihres kleinen Sohnes geschrieben hat, würdest du mich nicht so herablassend ansehen, nicht wahr?«
Er schwieg, erschüttert von der Tiefe und Intensität des Gefühls, die sich in den drei einfachen, alltäglichen Zeilen plötzlich offenbarten.
»Haiku sind wie die leibliche Hülle, welche die unsichtbare, ungreifbare Seele umschließt. Das Geheimnis liegt in dem engen Raum zwischen den fünf Silben der ersten Zeile (sie heißt Kamino-ku) und den sieben Silben der zweiten Zeile (sie heißt naka-noku) und zwischen den sieben Silben des Naka-no-ku und den fünf Silben der dritten und letzten Zeile (sie heißt Shimo-no-ku). Wie soll ich es dir erklären, damit du verstehst?« Auf Midoris Gesicht trat ein schelmisches Lächeln. »Ich werde es versuchen. Ein gutes Haiku gleicht der Silhouette einer schönen Frau oder einem raffiniert entblößten Teil ihres Körpers. Konturen, ein Detail sind weit erregender als das Ganze.«
»Ich bevorzuge das Ganze«, erklärte Fandorin und legte ihr die Hand aufs Knie.
»Weil du ein unreifer Junge bist und ein Barbar.« Sie schlug ihmmit dem Fächer auf die Finger. »Ein feinsinniger Mensch braucht nur einen Zipfel der Schönheit zu sehen, und augenblicklich malt ihm seine Phantasie den Rest, und zwar um ein vielfaches besser.«
»Das ist von Puschkin, damit du es weißt«, knurrte Fandorin und blies sich auf die schmerzenden Finger. »Und dein Lieblingsgedicht ist zwar schön, aber doch sehr traurig.«
»Wahre Schönheit ist immer traurig.«
Fandorin war erstaunt.
»Tatsächlich?«
»Es gibt zwei Schönheiten: Die Schönheit der Freude und die Schönheit der Trauer. Ihr Menschen des Westens bevorzugt erstere, wir dagegen letztere. Denn die Schönheit der Freude ist kurzlebig wie der Flug eines Schmetterlings. Die Schönheit der Trauer aber ist stärker als Stein. Wer erinnert sich noch an die Millionen glücklich Verliebter, die friedlich ihr Leben lebten, alterten und starben? Über die tragische Liebe hingegen dichtet man Lieder, die jahrhundertelang lebendig bleiben. Komm, trinken wir etwas, und dann reden wir über die Schönheit.«
Doch über die Schönheit zu reden war ihnen nicht beschieden.
Fandorin hob seine Trinkschale und sagte: »Ich trinke auf die Schönheit der Freude.« – »Und ich bin Japanerin und trinke auf die Schönheit der Trauer«, antwortete Midori und trank, Fandorin aber kam nicht mehr dazu.
Ein rasender Schrei zerriß die Stille der Nacht: »Tsume-e-e!« Als Echo ertönte ein vielstimmiges Geheul.
Fandorins Hand zitterte, und der Sake floß über die Strohmatte.
Die Hand zitterte,
Der Wein floß über den Tisch.
Ein böses Omen.
Das große Feuer
Es kommt vor, wenngleich selten, daß man eine Frau trifft, die stärker ist als man selbst. Da heißt es nicht aufschneiden, nicht prahlen, sondern im Gegenteil: sich schwach und hilflos stellen. Dann schmelzen starke Frauen dahin. Und tun alles ganz von allein, Hauptsache, man läßt sie machen.
Im Dorf der verdammten Shinobi gab es nur ein einziges Objekt, das für einen Liebhaber der holden Weiblichkeit von Interesse war: die siebzehnjährige Etsuko. Sie war zwar keine Schönheit, aber wie heißt es so treffend: Im Sumpf ist auch die Kröte eine Prinzessin. Die übrige weibliche Bevölkerung von Kakushimura 1 (so nannte Masa es, die Shinobi selbst hatten ihrem Dorf keinen Namen gegeben) bestand aus der alten Hexe Neko-chan** (ein schönes Kätzchen!), der schwangeren Frau des pockennarbigen Gohei, der einäugigen Sae und der fünfzigjährigen Tampono. Zwei rotznäsige Mädchen, neun und elf Jahre alt, zählten nicht.
Am ersten Tag hielt Masa sich von der ins Auge gefaßten Beute fern, beobachtete sie und entwarf einen Schlachtplan. Das Mädchen war patent und weckte sein Interesse. Sie war arbeitsam, geschickt und sang gern. Und überhaupt war er neugierig, wie eine Itinoku, eine Ninjafrau, beschaffen war. Wenn sie sich bei einem Sprung dreimal in der Luft überschlagen konnte oder eine Wand bis zum Dach hochlaufen (das hatte er selbst gesehen) – was mochte sie da erst in Momenten der Leidenschaft anstellen! Bestimmt Dinge, an die er sich später gern erinnern und von denen er anderen erzählen konnte.
Zunächst einmal galt es natürlich,
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