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Diamantene Kutsche

Diamantene Kutsche

Titel: Diamantene Kutsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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betrunken und sank zur Seite.
    Er wäre unweigerlich gestürzt und schmerzhaft auf die Pflastersteine geprallt, wäre nicht ein ehrbar aussehender junger Einheimischer vorbeigekommen. Der junge Mann fing den erschlafften Reiter auf, und aus der Teestube eilten der Wirt und der Pastor herbei.
    »Betrunken?« rief der Wirt.
    »Tot?« rief der Pastor.
    Der junge Mann fühlte Shirotas Puls und sagte: »Ohnmächtig. Ich bin Arzt … Das heißt, ich werde Arzt.« Er wandte sich an den Wirt. »Wenn Sie uns erlauben würden, den Herrn in Ihr Etablissement zu bringen, könnte ich ihm Hilfe leisten.«
    Zu dritt schleppten sie den fühllosen Körper in die Teestube, und da man den Verletzten in der englischen Hälfte nirgends hinlegen konnte, brachten sie ihn in die japanische Hälfte – dorthin, wo Fandorin seinen Tee trank.
    Ein paar Minuten dauerte es, den Wirt loszuwerden und besonders den Pastor, der dem Ärmsten in seinen letzten Augenblicken unbedingt Trost spenden wollte. Der Medizinstudent erklärte, es handle sich um eine simple Ohnmacht, es bestehe keinerlei Gefahr, der Verunglückte müsse nur ein wenig ruhen.
    Bald erschien Tamba. Niemand hätte in dem ansehnlichen sauberen Greis den abscheulichen Bettler von der Brücke erkannt. Der Jonin wartete, bis die Fremden gegangen waren. Dann beugte er sich über Shirota, drückte auf seine Schläfen und setzte sich ein Stück abseits.
    Der Renegat kam augenblicklich zu sich.
    Er klapperte mit den Lidern und schaute verwirrt an die Decke. Dann hob er den Kopf, und sein Blick begegnete den kalten blauen Augen des russischen Vizekonsuls.
    Ruckartig richtete er sich auf und bemerkte die beiden Japaner. Den jungen Den beachtete er kaum, dafür starrte er den stillen Alten an, als habe er sein Lebtag noch nie etwas Grausigeres gesehen.
    Shirota wurde blaß, Schweißperlen traten ihm auf die Stirn.
    »Ist das Tamba?« fragte er Fandorin. »Ja, er entspricht der Beschreibung … Genau das habe ich befürchtet! Daß sie Sonja entführt haben. Wie können Sie, ein zivilisierter Mann, mit diesen Ungeheuern gemeinsame Sache machen?«
    Doch nach einem nochmaligen Blick in das reglose Gesicht seines ehemaligen Kollegen senkte er den Kopf und murmelte: »Ja, ja, natürlich … Sie hatten keine Wahl … Ich verstehe … Aber ich weiß, Sie sind ein anständiger Mensch. Sie würden nicht erlauben, daß die Shinobi ihr etwas Böses antun! Erast Petrowitsch, Herr Fandorin, Sie lieben doch auch, Sie werden mich verstehen!«
    »Nein«, entgegnete der Vizekonsul gleichgültig. »Die Frau, die ich liebte, lebt nicht mehr. Dank Ihrer Hilfe. Tamba sagt, Sie hätten die Operation geplant. Nun, Tsurumaki kann sich g-glücklich schätzen mit seinem Assistenten.«
    Shirota sah Fandorin ängstlich an, erschreckt nicht so sehr durch dessen Worte als durch den leblosen Ton.
    Er flüsterte leidenschaftlich: »Ich … Ich werde alles tun, was sie wollen, aber laßt sie frei! Sie weiß nichts, sie versteht nichts von meinen Angelegenheiten. Sie darf nicht als Geisel festgehalten werden! Sie ist ein Engel!«
    »Ich wäre nie auf die Idee gekommen, Sofja Diogenowna als G-geisel zu nehmen«, entgegnete Fandorin mit seiner trägen, erloschenen Stimme. »Das ist eine infame Unterstellung.«
    »Das ist nicht wahr! Ich habe einen Brief von ihr erhalten. Es ist Sonjas Schrift!« Shirota zog ein kleines rosa Blatt Papier aus einem erbrochenen Kuvert und las vor: ›O Unglück! Verloren ist mein Herz, komm her, nur schnell, und rette mich! Und kommst du nicht, so wisse denn: Das ist mein Tod, mein Tod durch dich.‹ Tamba hat herausgefunden, wo ich Sonja versteckt habe, und sie entführt!«
    Der Bräutigam der »Kapitänstochter« bot einen erbarmungswürdigen Anblick: Zitternde Lippen, herabbaumelnder Zwicker, flehend gerungene Hände.
    Doch Fandorin ließ dieses Bild selbstloser Liebe kalt. Er rieb sich die Brust (verdammte Lungen!) und sagte nur: »Das ist kein Brief. Das sind Verse.«
    »Verse?« Shirota war verblüfft. »Was reden Sie da! Ich weiß, was russische Verse sind. Das hier hat keinen Reim. ›Mich – dich‹, das ist kein Reim. Es gibt Blankverse ohne Reim, aber die haben einen Rhythmus. Zum Beispiel bei Puschkin: ›Erneut besucht ich jenen Erdenwinkel, wo als Vertriebener zwei Jahre ich verbracht.‹ Das hier hat keinen Rhythmus.«
    »Trotzdem sind es Verse.«
    »Ach, dann ist es vielleicht ein Gedicht in Prosa!« rief Shirota. »Wie bei Turgenjew! ›Mich dünkte, ich befände mich irgendwo in

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